Dirk Vincken
· 11.09.2022
In Ausgabe 8/2022 testete GUTE FAHRT auf dem VW Tiguan Ganzjahresreifen in 235/55 R 18 von sieben Herstellern auf ihre Sommer-Eigenschaften. Teil zwei klärt nun die Frage: Wie schlagen sich die Fast-Alles-Könner auf Schnee? Und welcher Pneu wird Gesamtsieger? (Hier lesen Sie den ersten Teil)
Die Testreifen in 235/55 R 18 100/104V XL
Die alten Griechen kannten zwar noch keine Ganzjahresreifen, aber sie erfanden im Altertum bereits den Begriff des Paradoxons. Der beschreibt bis heute einen echten oder scheinbaren Widerspruch. Auf die heutige Zeit und die Reifenszene übertragen: Fans der Allwetter-Reifen schwören auf ihre vier Alternativ-Gummis, die sie mehr oder weniger sicher und komfortabel durch die vier Jahreszeiten bringen. Okay, nicht ganz auf dem Niveau, wie es „echte“ Sommer- oder Winterprofile können, aber immerhin „recht ordentlich“. Dem gegenüber steht die Phalanx der Reifenenthusiasten. Die fahren sommers wie winters aus Überzeugung die Klassiker, würden nie das Lager wechseln. Sie verstehen nicht, warum andere Autofahrer auf ein nicht unerhebliches Fahr-
dynamikpotenzial verzichten. Das finden sie paradox. Und in so manchem Automobilforum geht es zu genau diesem Thema heiß her.
Blicken wir kurz zurück auf das Resümee des ersten Teils unseres Ganzjahresreifen-Tests aus GF 8/22, der sich exklusiv mit den Trocken- und Nass-Eigenschaften dieser Spezies befasste. Unsere Probanden schlugen sich durchaus wacker, konnten in manchen Disziplinen sogar an die Fahreigenschaften von guten Sommerreifen gefühlt heranreichen. Doch speziell beim Bremsen gingen sie in die Knie. Im Klartext: Aus Tempo hundert genehmigten sie sich bis zum Stillstand auf trockener Fahrbahn rund drei bis vier Extra-Meter im Vergleich zu reinen Sommerreifen. Das muss man als Kunde und Fahrer verinnerlichen, so unsere Botschaft.
Ideale Bedingungen für den Wintertest
Doch genug der fast schon philosophischen Betrachtung über die Für und Wider von Ganzjahresgummis. Gehen wir ran an die Fakten und verfrachten den ganzen Test-Tross in den schwedischen Teil Lapplands. Dort erwarteten uns letzten Dezember – wohl dank Anbetung sämtlicher nordischer Gottheiten – ideale Test-Konditionen. Mit -5 °C tagsüber bewegten wir uns im für Ganzjahresreifen optimalen Winter-Temperaturbereich. Wäre es deutlich kälter gewesen, so etwa
-20 °C, hätte die Gummimischung die sogenannte Glasübergangstemperatur unterschritten und sich sehr schnell verhärtet – so wie es ein Sommerreifen bereits um null Grad tut. Wichtig zu wissen: Das Laufflächengummi wird von den Herstellern genau auf seine zu erwartenden Temperaturbereiche eingestellt. Bei Winterreifen kommt zum Beispiel neben anderen Maßnahmen mehr Natur- als künstlicher Kautschuk zum Einsatz, das macht den Gummi weicher und kälte-elastischer. AllSeasons müssen in puncto Gummikonsistenz hingegen Kompromisse eingehen: Konzipiert sie der Entwickler zu sehr in Richtung Winter, also hin zu tieferen Temperaturen, sind sie im Hochsommer viel zu weich. Umgekehrt gilt die gleiche Einschränkung: Zu sommeraffin ausgelegt, versprödet ein Allwetterpneu, wenn das Thermometer in der kalten Jahreszeit stärker fällt. Es ist leicht, sich vorzustellen, wie die Entwickler sich an diesem Scheideweg die Haare raufen. Ein weiterer Faktor sind die Lamellen, also die vielen feinen Einschnitte im Laufflächenprofil. Die verbeißen sich mit dem Schnee, indem sich ihre Kanten regelrecht am verdichteten Schnee abstützen. Ein Winterreifen hat um die 2.000 solcher Lamellen, ein Ganzjahresreifen etwa die Hälfte. Hätte er deutlich mehr, würde seine Lenkpräzision im Sommer spürbar leiden. Hätte er keine, würde er im Winter versagen.
Ein Reifen muss durchdrehen
Es ist zehn Uhr morgens, hier in Älvsbyn im Testzentrum. Draußen ist’s polarkreistypisch dunkel, die präparierten Schneepisten reflektieren das kalte Licht der Flutstrahler. Unser Test-Tiguan rollt zu Testbahn vier, zur Traktionsprüfung. Gegen eine definierte Last muss das Fahrzeug aus dem Stand so lange beschleunigen, bis die Vortriebskraft der angetriebenen Vorderräder erst gleitend, dann vollständig abreißt. In diesem Moment beträgt der Schlupf 100 Prozent, sagen die Reifentechniker. Wären also null Prozent der Idealfall? Keineswegs. Denn ein Reifen muss durchdrehen, sonst kann er keine Kräfte übertragen. Auf Schnee beträgt für einen bestmöglichen Vortrieb der ideale Schlupf zwanzig bis dreißig Prozent, also deutlich mehr als auf trockener oder nasser Fahrbahn.
Kommen wir zu den Resultaten. Mit einer Zugkraft von 2.244 Newton oder umgerechnet 229 Kilogramm setzt sich der Goodyear klar an die Spitze und lässt ahnen, dass der Vector, der Urvater moderner AllSeasons, eher mit dem Winter- als dem Sommerlager liebäugelt. Der Pirelli führt mit etwas geringerer Zugkraft das nachfolgende Mittelfeld an. Eher am unteren Ende positioniert sich der Continental. Das ist deshalb erwähnenswert, weil der Conti aus der Sommerwertung als klarer Sieger in nahezu allen Disziplinen hervorging. Hier nun wird er etwas eingenordet. Das Schlusslicht des Traktionstests markiert der Falken mit umgerechnet 207 kg, was gegenüber dem Goodyear zehn Prozent Verschlechterung bedeutet. Doch grau ist alle Theorie des Messens und Wiegens, wie schlagen sich die sieben Kandidaten am „echten“ Hang? Der flachste weist eine Steigung von zehn Prozent auf, also 10 Meter Höhenunterschied auf 100 m Strecke. Ergebnis: Ernüchterung pur. Keiner der Teilnehmer schafft die Anhöhe aus dem Stand. Ein parallel gefahrener, moderner Winterreifen schüttelt die Prüfung locker aus dem Ärmel. Wir lernen: Allwetterreifen wollen laufen, Anfahren am verschneiten Hang liegt ihnen nicht so.
Nehmen wir uns den Handlingparcours vor. Das ist ein Kurs aus weiten und engeren Kurven sowie wechselnden Beschleunigungs- und Bremspartien. Wieder setzt sich der Goodyear frech an die Spitze, vermittelt wie die dichtauf Nächstplatzierten Conti und Pirelli ein recht stimmiges Gesamtbild. Beherrschbarkeit im Grenzbereich, Lenkpräzision, Spurtreue, ESP-Regelgüte und Traktionsvermögen lauten die wichtigsten unserer Kriterien.
Auf einer Skala von 0 (unfahrbar) bis 10 (perfekter Reifen innerhalb seiner Konzeption) heimst das Trio Noten von 7 bis 8 ein – für einen AllSeason gute Werte.
Weniger Seitenführung
Zur besseren Einordnung: Gegen einen guten Winterreifen als Referenz wären die AllSeasons über einen Wert von 6 kaum hinausgekommen. Ein eklatanter Winter- Nachteil der Ganzjahres-Helden manifestiert sich hier: das recht schwache Seitenführungspotenzial. Zwar bleiben diese Reifen in Längsfahrtrichtung stabil und recht vortriebsfreudig, doch in Kurven entfernen sie sich von dem, was wir von Winterreifen gewohnt sind, recht deutlich: Sie lassen spürbar Querführungspotenzial vermissen, schieben stoisch zum Kurvenaußenrand, in krassen Fällen auch darüber hinaus. ESP und Antriebsschlupfkontrolle kommen erstaunlich früh zum Einsatz. Besonderes Vertrauen schafft das nicht. Das heißt, der Fahrer sollte in Kurven sein Geschwindigkeitsniveau nach unten anpassen – und zwar vorher.
Goodyear und Nokian glänzen
Der Nokian SeasonProof, aus dem Hause eines ausgebufften finnischen Schnee-Experten, reiht sich überraschend ins Mittelfeld ein, assistiert vom Bridgestone, der seine erfreuliche Präsenz aus der Sommerwertung hier nicht wiederholen kann. Gar nicht so recht anfreunden mit der weißen Pracht wollen sich Falken und Vredestein, sie ernten hier die Zitronen des Wintertests.
Bleibt als letzte Prüfung noch der Bremsweg auf Schnee. Gemessen wird aus exakt Tempo 50 bis zum Stillstand. Goodyear ist konsequent und setzt sich – zusammen mit dem zuvor eher enttäuschenden und hier wieder auftrumpfenden Nokian – mit rund 28,5 Metern deutlich an die Spitze. Damit liegt das Top-Bremsduo aber immer noch gut dreieinhalb Meter über dem Durchschnittswert vergleichbarer Winterreifen.
Handling auf Schnee
Traktion auf Schnee
ABS-Bremsen auf Schnee
Über 20 Prozent Marktanteil
Doch keine Angst, Ganzjahresreifen sind nun keineswegs als „bedingt wintertauglich“ einzuordnen. Sie bewegen sich durchaus auf dem Niveau von guten Winterreifen von vor zehn bis 15 Jahren, und damals kam man auch ohne übermäßigen Angstschweiß auf der Stirn ans Ziel. Also durchaus ein Bekenntnis zu der am Reifenmarkt am stärksten boomenden Gattung? Diese Frage lässt sich nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Auch wenn Allwetterreifen ohne jede gesetzliche Einschränkung für den Winter zugelassen sind (Schneeflockensymbol ist verpflichtend), können sie wegen ihres Profil- und Material-Mixes auf Schnee und Matsch nie die Leistung guter Winterreifen hervorzaubern. Das kann und sollte man auch nicht erwarten. Es gilt nach wie vor die Erkenntnis, die nicht neu und dennoch aktuell ist: Wer in Regionen mit gemäßigtem Klima wohnt, nur kurze Strecken zurücklegt und bei sehr winterlichen Wetterlagen den Wagen auch mal stehen lassen kann – für den können Allwetterreifen eine Alternative zu Sommer- bzw. Winterreifen sein. Eine deutlichere, schärfer trennende Aussage gibt es nicht. Ganzjahresreifen erfordern Kompromissbereitschaft und den Verzicht auf das reifentechnisch Machbare im Sommer und im Winter. Und das ist nun überhaupt nicht paradox. Das hätten die alten Griechen auch gleich sagen können.