Knut Simon
· 24.10.2022
Was haben wir nicht schon alles an Geschichten von Autos und Menschen gehört! Darunter einige, die starteten wie der sprichwörtliche Tiger im Tank, um letztlich als schlaffe Fußmatte unter den betretenen Blicken der Beifahrer zu landen. Dabei genügt es, im Revier der Kleinanzeigen zu trüffeln, um fette Beute zu machen. Dort fand sich die Geschichte von Peter und dem Golf. Ähm, Passat ...
Es sei mir gestattet, ausnahmsweise mit der Demonstration eines Wissensvorsprungs zu beginnen: Nein, meinen Freund Jan-Dirk aus dem Dorf mit dem klingenden Namen Bullenhausen werden Sie als Leser dieser Zeilen wohl eher nicht kennen. Ich aber kenne ihn, seit er am Nachbartisch der Hamburger Oldie-Tanke ziemlich laut die Autos seiner Jugend aufzählte. Die ziemlich genau auch die Autos meiner Jugend waren. Seit dieser Episode sind Jan-Dirk und ich ziemlich beste Freunde. Mit dem Unterschied, dass ich bei rund 120 besessenen Autos stehen geblieben bin, Jan-Dirk sich hingegen bis heute als »Trüffelschwein« für kuriose und unverschämt günstige Youngtimer betätigt.
Höre ich Sie da gerade vernehmlich seufzen? Haben auch Sie so einen Kumpel, der Ihren Tag mit gefühlt drei Millionen »BING!« auf dem Handy bereichert? Inhalt: ausnahmslos Kleinanzeigen-Links? Gut, dann wissen Sie ja doch, wovon ich schreibe. Allerdings habe ich noch ein weiteres Ass in meiner Schreibfeder. Hört auf den Namen Peter
Ropers und sollte Ihnen ebenfalls unbekannt sein – aber nicht mehr lange. Wenn Sie sich auf diesen Text hier derart einlassen, wie ich es im Falle von Peters Annonce tat ...
Diese kündigte mir besagter Jan-Dirk mit einem ganz besonderen »BING!« an. Sie begann folgendermaßen:
»Hiermit möchte ich meinen Passat Variant 1,8i Automatik verkaufen. Der Wagen ist nicht professionell hergerichtet. Durchrostungen garantiert, Tank rostet, Kraftstoffpumpe fest, keine Batterie, Spaltmaße übel, Reifen über 20 Jahre alt. Fahrwerk sicher wie ein kaputtes Sofa. Nicht fahrtauglich. Kein TÜV. Keine H-Zulassung. Er steht seit über zwölf Jahren trocken in der Scheune und lief seitdem nicht mehr. Viel Hohlraumwachs lässt ihn noch existieren. Nichts für Perfektionisten. Da dieses Fahrzeug bedingt durch seine Individualität sehr speziell ist, bedarf es der Schilderung einer Vorgeschichte.«
»Oh!«, rief ich verzückt, »Ebay-Kurzgeschichten! Die lese ich mal!« Die Annonce fuhr fort wie folgt:
»Der langjährige und jetzige Eigner des Passat (also ich) wuchs in einer ländlichen Gegend auf, in einer noch ländlicheren Straße, auf dem letzten Bauernhof.«
Klingt so richtig nach Bullerbü, dachte ich bei mir, und tatsächlich ging es noch kurz weiter wie im Märchen:
»Er hatte wenig Sozialkontakte, waren ja auch nicht viele da.« An dieser Stelle musste ich das erste Mal kichern. Etwas gemein, ich weiß, aber auch ich kenne Land- und Provinzleben gut. Egal, weiter mit Peters Text:
»Die brauchte er auch nicht, die Umgebung war spannend und hatte viel zu bieten. Ein Highlight war, als irgendwann Lastwagen kamen und Schrottautos in den Straßengraben warfen, den später ein Bagger zuschob, damit der Graben keiner mehr war. Die 1970er Jahre halt. Damit wurde seine automobile Leidenschaft geweckt. Wochen verbrachte er dort, bevor der Bagger kam. Er schraubte ab, was möglich war, jedes Teil hochinteressant und wertvoll wie Blattgold für ihn.«
Alter! Das schmeckte derart nach King Rocko Schamonis Roman »Dorfpunks«, einem meiner Lieblingsbücher, dass mir klar war: zu diesem Text brauchst du den Film! Die echten Bilder, den echten Peter. Und vor allem dessen inserierten 1977er Passat
Variant. Der genau so speziell daherkam in seinem Lindgrün und tiefer gelegt auf Azev-Alus, wie der Peter selbst. Und der mit drei weiteren Passat der Baureihen 32 und 32b in Peters Scheune stand. Also ran ans Telefon. »Einen Artikel willst du schreiben über meinen Passat? Aber das ist doch nur ein Auto!« Ja, Peter, genau! Aber so sympathisch funkelnd, wie Anzeigentext und Konfiguration des Variants sind, erzählt sich diese Geschichte doch fast von alleine! »Okay, wenn ich nicht selbst so viel reden muss, dann komm‘ halt vorbei...«
War dann aber nix mit dem Schweigen im Walde. Zum Glück.
Drei Tage später. Stade, Niedersachsen. Ich rolle durch eine ländliche Gegend, auf einer noch ländlicheren Straße, schließlich vor die Scheune des letzten Bauernhofs. Das Grün der Wiesen hier ist so saftig wie das Grün des Passat Variant giftig. Dabei handelt es sich bei dessen Farbton um die eigentlich milde Karmann-Serienfarbe »Weiss-Grün« aus den pastelligen Sechziger Jahren. Hinter dem derart gefroschten Passat erscheint jetzt Peter. Winkend tritt er aus der Tür seines Bauernhofes aus dem Jahre 1600, trippelnd begleitet von Huhn Birgit. »Das also ist er: 1977er Passat
Variant, ursprüngliche Farbe Diamantsilber Metallic. 1,8er Motor, 112 PS-Einspritzer vom GTI mit Drei-Gang-Automatik. Alu-Ölwanne. Unterfahrschutz. Original Klima! Echtleder-Rückbank, 52er VDO Instrumente, Transistorzündung. Innen 36er Raid-Dino-Lenkrad und Laderaumabdeckung, außen 7x15 Azev Typ A und BMW-E30-DE-Linsenscheinwerfer.« Kurze Pause. Birgit gackert. Peter grinst: »Außenwirkung einfach fantastisch!«
Du guckst dich um und musst lachen: Fachwerk, Vieh, Fantastik: Scheune Bescherung! Dieser Vari ist eine echte Zeitkapsel, ein Hammer. Genau so haben wir sie damals doch alle gebaut! Oder, Peter? Der relativiert mit einer entsprechenden Handbewegung: Der Führerschein kam nach Jahren des Wartens, alle andern Kinder in seinem Alter begehrten GTI und GSI – aber schon damals musste er sich von diesen »Langweilern«, wie er sagt, abgrenzen – und kaufte sich daher einen Lada. »Kohle hatte ich nicht, das musste reichen fürs Erste.“
Nach kurzer Zeit als 18-jähriger Rennfahrer im öffentlichen Straßenverkehr überschlug sich der Lada mehrfach mit ihm und schon war er platt. Also der Lada.
Kein Geld als Lehrling, doch ohne Auto ging es nicht! Über eine Finanzspritze seiner Eltern kam Peter zu einem Passat Typ 32. »Meine Eltern waren umgestiegen vom VW 1500 Variant auf den Passat. Alle zwei Jahre kam ein Neuer. Vernünftig, praktisch, gut. Und langweilig. Gefallen hat mir da rein nichts dran. Aber mein Interesse war irgendwie geweckt.«
Autos wie der »Passerati BSE« aus der legendären »Fusseltuning«-Schmiede von KLE törnten ihn an. Olaf Steenbocks »OST-Blog« zum Passat las er gern. Ergo wurde auch Peters erster Passat umgehend mächtig individualisiert. Lackiert in Hammerschlag-Optik, Mitteltunnel aufgeflext, damit das Fünfgang-Getriebe passte und so nicht die Vorderachs-Geometrie beeinträchtigte. »War geil, bei Regen musstest du nur die Hand mit der Kippe leicht absenken zum Aschen oder Löschen. Und du konntest astrein auf die Straße gucken!« Außerdem verwendete Peter kurzerhand das Rohr der Zapfwelle des heimischen Güllefasses als Sportauspuff. Das gab irren Sound, irre Blicke und irre Punkte. Am Passat, am Wegesrand, in Flensburg.
Was dann geschah, kann man sich denken und zu Recht befürchten: Es kam, im Laufe der Benutzung, zu einer unkontrollierten 180-Grad-Wende in besagtem ersten Passat, in dessen Folge eines der vier Radhäuser plötzlich leer war – Hinterachse rausgerissen. Das Problem löste Peter, wie man alle Probleme auf dem Land löst: mit der Forke eines Treckers. Und zum Glück war der elterliche Hof am Ende der ländlichen Straße ja schon längst nicht mehr leer. Zeitweise dösten dort über zehn Passat, allerdings mehr aus Rost als aus Blech. Einige fungierten garantiert als Hühnerstall, jedenfalls lässt Birgits Verhalten darauf schließen. Die entert den Beifahrersitz mit flappenden Flügeln. »Ich war total manisch, aber immer mit Freude«, grinst Peter, der keinen ihm angebotenen Passat habe ausschlagen können und alle Teile habe besitzen müssen. Angenehmer Nebeneffekt: Er lernte Passat 32 und 32b durch und durch kennen.
Dann, 1993, sichtete er DIE Anzeige: Passat Typ 33 mit 85 kW für 150 Mark. Hammer! 85 kW! So einen hatte er noch nie gesehen, Leistung ohne Ende! »Bis dahin hatte ich immer das Credo meines Vaters im Ohr: ›Alles über 55 PS ist Übermut!‹ – also nix wie hin!« Im Passat Carat, den Peter damals im Alltag fuhr. »Der Verkäufer entschuldigte sich als Erstes für den Fehler in der Annonce, es seien 85 PS und nicht 85 kW, das gäbe es ja auch gar nicht«, sagt Peter trocken. Der eigentliche Anreiz für den Kauf hatte sich damit erledigt. Eigentlich. »Dann nehm‘ ich den Vari halt als Winterhure, um den Carat zu schonen«, rechtfertigte Peter letztlich den Kauf. Doch ein guter Freund inspizierte derweil den Neuzugang, tippte erst auf die Schalter der originalen Klimaanlage und sich dann an den Kopf: Spinnst du? So etwas Seltenes als Wintergurke zum Verheizen in Schnee und Salz?
Peter überlegte, aber nicht lange: »Okay. Dann eben den Carat weg und den 32 Variant aufbauen. Aber verändern.« Was, war ihm egal – Hauptsache, anders! Originalität, Purismus? Vielsagender Blick, hochgezogene Augenbraue: Er macht sein Ding alleine. »Ich bin ein Eigenbrötler. Ist ja auch okay, solange ich niemanden dadurch störe.« Stimmt. Und, wer weiß: Vielleicht wird man ihn dereinst sogar als den Magnus Walker der Passat-Szene inthronisieren. Das Label »Landlord Outlaw» jedenfalls passt bereits jetzt.
Sechs Monate lang rockte Peter den Vari. Der Wagen war hoffnungslos verrottet, aber lief. Und hatte eben original Klima. Die Rettung war nicht zu vertreten, er tat es trotzdem. Er kaufte ein billiges Schweißgerät und begann zu braten, was das Zeug hielt, ohne Kenntnisse dieser Kunst, es bereitete ihm Spaß. Faustgroße Löcher in den Türen. Kotflügel zum Abreißen ohne Werkzeug. Jedes Wochenende fahndete Peter auf Hamburgs größtem Schrottplatz nach Teilen. »Mein Kopf ratterte: Was kannst du noch machen? Für 50 Mark gab‘s nen Motor aus einem Golf II GTI. Scheinwerfer vom BMW E30. Ich kaufte eine Scirocco-Front und ein Polo-Cockpit, verwarf beide Ideen aber wieder.« Der Vari erlebte echten Durchschnitt, als Peter ihm per Flex die Fahrwerksfedern stutzte. Bei dem Satz guckt Birgit etwas panisch. Tschuldigung.
Dann gab es tatsächlich TÜV für den Variant und Peter fuhr ihn ganze zwei Jahre. Sogar bis ans Mittelmeer. Danach gaben sich die Prüfer ungnädig und keine neue Plakette. Der Motor zu groß, die Reifen zu breit, das Fahrwerk zu tief, also weggestellt die Karre und auf zum nächsten Projekt. Platz hatte er ja.
Doch die Projekte wurden andere und gleich mehrere: Jobs kamen und gingen, der elterliche Hof wurde saniert und umgebaut, was bis heute andauert und bei dem Peter tatkräftige Unterstützung von seiner Frau Tomke erfährt. Die kennt er seit frühester Jugend, nur seine ersten erfolgreichen Fahrversuche im Passat sind noch älter (mit zwölf Jahren, als er an die Pedale kam). Das Jugendliebe-Paar war nur einmal zwischendurch kurz für 20 Jahre getrennt. Wohl auch als Ergebnis von Peters Charme: »Am letzten Tag vor ihrer Abreise nach London, wo sie eine Ausbildung begann, kam Tomke zu mir auf den Hof und fragte, ob wir den Nachmittag noch gemeinsam verbringen wollten. Ich war doch aber gerade dabei, den Innenraum eines Passat mit Cockpitspray zu behandeln und sagte daher ›Nö‹.«
Peter! Nicht! Dein! Ernst! »Man muss halt Prioritäten setzen...«, grinst dieser provokant, und Tomke knufft ihn in die Seite. »Ganz aus den Augen hatten wir uns nie verloren. Als sie nach 20 Jahren und Stationen in aller Welt wieder näher an Deutschland heran rückte, haben wir uns auf einen Kaffee verabredet – und sofort geheiratet.«
Doch nun, 2021, ist Flurbereinigung bei Tomke und Peter: Giebel, Dächer, Wände, Fenster des Hofes sind zunehmend im Lot und von über zehn Passat nur noch vier vorhanden, drei davon in guten Zuständen. »Bleiben darf aber nur der silberne GLS, den findet mittlerweile sogar Tomke hübsch«, grinst Peter erneut spitzbübisch. Dennoch wolle er den Weiss-Grünen nur an einen Liebhaber abgeben. Das heißt, er habe an einen solchen verkauft.
Äh, bitte ...? Das Inserat ist gerade einmal 72 Stunden alt, der Wagen steht leibhaftig vor uns. Peter schnappt sich die gackernd protestierende Birgit. »Hab‘ ich echt vergessen, das zu erwähnen? Den Vari habe ich gestern Abend an einen 22-Jährigen namens Lukas veräußert. Er kam gleich mitsamt Trailer. Ich habe ihm die Geschichte mit eurer Story erzählt. Er nahm es mit Humor, rumpelte wieder von dannen und holt den Wagen, wenn die Geschichte im Sack ist.«
Autotür und Scheunentor schließen sich. Leise knirscht der Kies des Hofes unter seinen Stiefeln, als sich Peter zum Gehen wendet. »Wenn ich groß bin, werde ich erfolgreicher Geschichtenerzähler«, ruft er winkend zum Abschied. Birgit sekundiert mit flappender Geflügelhälfte. Und mir schwirrt ein wenig der Kopf, in den just ein »BING!« dringt.
Irre Geschichte. Die muss ich gleich Jan-Dirk erzählen.
VW Passat 32 Variant Automatik
Baujahr 1979
Karosserie Selbsttragende Ganzstahl-Karosserie, nach Individualisierung mit deutlich erhöhtem GfK-Anteil.
Motor Vierzylinder-Ottomotor, ursprünglich 1.600 ccm, Vergaser und 85 PS.
Geändert auf 110 PS-Einspritzer mit 1.600 ccm aus Golf GTI.
Fahrwerk Einzelradaufhängung, McPherson-Federbeine vorn (per Flex gekürzte Federn), aktuell gewählte Fahrwerkseinstellung »weiches Sofa«.