Martin Santoro
· 20.10.2022
Die ersten Golf 1-Modelljahre sind selten und haben zwischen den Heckleuchten schwungvolle Zierkanten, Schwalbenschwänze genannt. Zwei seiner »Schwalben« bestückte Jörg Dangel mit ebenso raren 16V-Motoren von Tunerlegende Oettinger.
Erfolgreich nimmt Jörg Dangel im Sommer 2000 an einem Salsa-Kongress in der Schweiz teil. Erschöpft, aber glücklich nutzt der Tanzschullehrer seine Heimreise ins Saarland für einen Abstecher in den südlichen Schwarzwald, von wo aus ein historisch wertvolles Angebot lockt: »Golf 1 LS, Baujahr 1974, 1,5-Liter 70 PS, Senegal-Rot, original, ungeschweißt und vollständig«, lautet die Offerte sinngemäß. Der betagte Volkswagen gefällt, geht mit und begründet Jörgs Leidenschaft für Golf-Modelle früher Baujahre.
Woher sein Verlangen rührt, kleidet der gelernte Elektriker-Meister und Kälteanlagen-Konstrukteur in einfühlsame Worte: »Die ersten Modelljahre bis Sommer 1976 sind höchst selten geworden, daher etwas ganz Besonderes. Sie unterscheiden sich von späteren Ausführungen in vielen, meist kleinen Details, wie Lack- und Polster-Variationen, dem Scheinwerferglas, Extras und für Laien fast unscheinbare Abweichungen an der Karosserie«. Gemeint ist etwa der so genannte »Schwalbenschwanz«, eine Zierkante unterhalb jeder Rückleuchte, die 1974 obendrein länger ausfällt als beim Modelljahr darauf und anschließend ganz wegfällt. »Typenschilder können auch bei der Altersbestimmung helfen«, meint Jörg und bittet zum Direktvergleich in eine seiner heiligen Hallen. Fein säuberlich aufgereiht präsentiert der Mittvierziger eine Hand voll Pretiosen der besagten Golf-Baujahre. Gleich neben dem Einser steht ein lofotengrüner »S« im Erstlack von Anfang 1976, aber noch Modelljahr 1975. »Beim älteren LS sind die Schilder am Heck aus Alu, beim chromfreien grünen Sportmodell schon aus Plastik. Volkswagen-Schriftzug und Typenschild wechselten nach dem Golf-Jahr Nummer eins zudem ab Werk die Seiten«.
Interessant. Aber warum schauen beide so vernachlässigt aus, ganz anders wie etwa der brillantgelbe (Young Classics Band 4) gegenüber? »Der unangetastete 1974er S ist mein Sahnestück im Zustand eines gepflegten Jahreswagen mit etwas über 28.000 Kilometer. Meine Herausforderung besteht darin, unberührte Originale aufzuspüren und sie langfristig zu erhalten«, erklärt der Golf-Flüsterer. »Eine gepflegte Patina mit Lebensspuren darf schon sein«, wirft Jörg lächelnd hinterher. Dann stellt er die Motor- hauben von Schwalbe rot und grün nacheinander auf und eröffnet uns ein weiteres Kapitel seiner Leidenschaft.
Original schaut es im Motorraum hier wie dort nicht aus. »Serie war bei beiden der Einsfünfer mit 70 PS. Weil ich nebenbei noch Maschinen klassischer Tuner aus den 70er und 80er Jahren sammle und aufbereite, bot sich der Zustand beider Autos als optimale Basis für Erprobungen solcher Motoren an«. Sein »nebenbei« ist eine glatte Untertreibung – Jörg firmiert als JD Motorconcepts in Saarbrücken, von wo aus er weltweit mit Aggregaten und Komponenten handelt. Klassisches bis extremes Turbo-Tuning sind sein Geschäft, wobei den Salsa- Tänzer die technischen Leckerbissen von Tunerlegende Gerhard Oettinger (1920 bis 1997) am meisten begeistern. Zwei besonders seltene Versionen verpflanzte er ins patinierte Sammler-Duett. Die jeweilige Basis bildet ein serienmäßiger 1,8-Liter- Achtventiler vom Golf 2 GTI. Gebaut von 1984 bis 1987 leistet die Maschine (EV) ab Werk 112 PS bei 5.500 Touren. Das war Tuning-Pionier Oettinger zu wenig. Er legt mit seinem Power-Kit 2000E/16 eine gehörige Schippe Leistung drauf: 170 PS bei 6.250/min und stramme 198 Nm Drehmoment (5.000/min) waren für stolze 17.000 D-Mark zu haben. Durch Jörgs Feinarbeit an Zylinderkopf, Ansaugtrakt und Steuerzeiten liefert das Prüfstandsprotokoll beim lofotengrünen Einser gar 189 PS (7.200/min) und 200 Newtonmeter. Mit dem Kraftprotz ist ein Sprint auf Tempo 100 in knapp über sieben Sekunden möglich, was reicht, um die ins Visier genommene zeitgenössische Konkurrenz von BMW und Renault (R5-Turbo) zu deklassieren.
Im Wesentlichen beinhaltet die Oettinger-Kur eine Weiterentwicklung des bereits für den Golf 1 GTI konstruierten Vierventil-Zylinderkopfes (1600E/16) – 1981 eine Sensation, war es doch der erste 16V-Kopf für ein Großserienfahrzeug. Die Verdoppelung der Ventil-Zahl (mit von der Serie abweichenden Maßen für Ein- und Auslass) ist sehr aufwendig, sorgt aber für besseren Gemischdurchsatz und spürbar schnellere erfolgende Gaswechsel. Eine weitere Besonderheit des Kopfes sind zwei Nockenwellen, die in einer eigenes von Oettinger konstruierten Brücke liegen. Die voll einstellbare Einlass-Nockenwelle (276 Grad) treibt über ein Zahnrad die Auslass-Nockenwelle an. Daraus ergibt sich, dass beide Nockenwellen gegenläufig zueinander drehen. Wie beim Tuner-Original setzt auch Jörg die vorgesehene, spezielle Oettinger-Kurbelwelle aus Chrom-Molybdänstahl ein, die in Sammler-Kreisen mit bis zu 1.500 Euro gehandelt wird. Gemäß Oettingers viel zitierter Philosophie »Hubraum ist durch nichts zu ersetzen, außer durch mehr Hubraum« sind Schmiede- kolben (Bohrung/Hub – 82,0/94,5 mm zu Serie 81,0/86,4 mm) im Einsatz, die den Hubraum auf zwei Liter erweitern.
Die geänderten Bedingungen erfordern eine Anpassung der Verteilerkennlinie der Zündanlage als auch der nach wie vor serienmäßigen, mechanischen K-Jetronic-Einspritzung. Die Liste an Änderungen und spezifischen Oettinger-Komponenten ließe sich fast endlos fortsetzen, würde aber hier den Rahmen sprengen. Letztlich endete diese Spielart mit dem Erscheinen des Serien-Golf 2 GTI 16V (139 PS) im Jahr 1986, weswegen Oettinger sein Konzept einstellte. Gleichwohl brachte er Volkswagens Vierventiler auf kräftige 171 PS – für vergleichsweise günstige 8.000 D-Mark.
Intensivere Eingriffe hat auch die Maschine des roten Golf 1 erfahren, der 204 PS an die GTI-Antriebswellen weitergibt. Der Grundaufbau samt Hubraumerweiterung ist in Oettinger-Manier ausgeführt. Nach eigenem Gusto aber hat Jörg den Kopf und die Kanäle bearbeitet und die 304-Grad-Nockenwellen und H-Schaft-Stahlpleuel zusammengestellt. Noch seltener als die Ansaugspinne im grünen Einser ist das Oettinger-Saugrohr beim Roten, hier sind Doppelvergaser vom Typ Weber 45 DCOE angeflanscht. »Durch die vier einzelnen Drosselklappen röchelt der Motor viel lauter. Und mit den Vergasern hängt er aggressiver am Gas und zieht heftiger durch als der Einspritzer,« erläutert Jörg. »Damit war man damals vor der Turbo-Ära im Rennsport agiler unterwegs«, weiß der Tanzlehrer mit dem Händedruck eines Schraubstocks zu berichten und schließt das Tor zu seiner außergewöhnlichen Schwalben-Sammlung wieder bedächtig.
VW Golf 1 LS
VW Golf 1 S