DDR-Rallye-MeisterschaftGenosse Käfer

Martin Santoro

 · 20.10.2022

DDR-Rallye-Meisterschaft: Genosse KäferFoto: Archiv Jörg Pattusch
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Auf einem Käfer die DDR-Rallye-Meisterschaft zu gewinnen, wertete der SED-Staat als Provokation und verbannte ab 1980 alle Westautos aus den Wettbewerben. Was der Dresdner VW-Fahrer Jörg Pattusch bis zum Meister-Titel und danach erlebte, ist eine wechselhafte Erfolgsgeschichte mit Happy End.

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Foto: Archiv Jörg Pattusch

Für Fans ist es die Königsklasse des Motorsports: Schussfahrten mit Topspeed im Rallye-Rennwagen, gefolgt von engen Kurven und Drifts auf tückischem Untergrund – jeder Knochen, jeder Muskel maximal beansprucht. Auch mental wird Höchstleistung abverlangt, wenn es bei den hohen Geschwindigkeiten im Gelände auf Entscheidungen ankommt, die der Fahrer und sein Copilot im Bruchteil von Sekunden treffen müssen – als eingespieltes Team, ohne Spielraum für Fehler.

Von dieser Puls-beschleunigenden Art der Fortbewegung leckt Jörg Pattusch erstmals 1974 Blut. Völlig überraschend gewinnt der gebürtige Leipziger auf Bezirksebene einige Rallyes im Erzgebirge, wodurch er sich im Folgejahr automatisch für die DDR-Meisterschaft qualifiziert. Als Wettbewerbsfahrzeug präpariert der Aktivist ein Karmann-Coupé Typ 14 mit Porsche 356-Motor, der die sozialistische Konkurrenz von Wartburg, Lada und Skoda regelrecht deklassiert.

Die gleichfalls simple wie robuste Volkswagen-Technik »West« lernt Jörg unmittelbar nach seiner Zeit beim VEB-Gleichschritt kennen. Während seines Maschinenbau-Studiums verdingt er sich als Taxifahrer und Autoschrauber in Leipzig, bis ihn die NVA (Nationale Volksarmee) mit 26 Jahren zum Dienst ruft. Bei den Streitkräften erkennt sein Vorgesetzter in Jörg das handwerkliche und organisatorische Talent, worauf der Major dem Gefreiten die Leitung der angegliederten KfZ-Werkstatt überträgt. »Die Arbeit hat mir so gut gefallen, dass ich nach der Militärzeit sofort nach einer eigenen Werkstatt suchte«, erinnert sich der Ingenieur, damals nicht ahnend, wie zukunftsweisend seine Entscheidung ausfallen sollte. »Erschwerend war allerdings, dass ich als Junge weder Pionier noch FDJler war und später nicht in die Partei eintrat«, was seinerzeit half, viele Wege im Arbeiter- und Bauernstaat zu ebnen. Nach zahlreichen Ablehnungen folgt Jörg der Offerte in einer Dresdener Tageszeitung. Die lediglich aus zwei Garagen mit kleinem Anbau bestehende Werkstatt in der Kesseldorfer Strasse lag 1968 noch am Stadtrand der Elb-Metropole. Geführt von den Gebrüdern Richter entstehen dort im Nachkriegs-Chaos vereinzelt Sonderkarosserien sowie Umbauten auf Fahrgestellen ehemaliger Wehrmachts-Kübel und später auch Käfer. Die Bodengruppen verheiraten Herbert und Heinz Richters mit F9-Karosserien (DKW und IFA). Zur Reparatur kommen meist Käfer und Porsche. Bei letzteren handelt es sich, wie Fotoanalysen belegen, um die legendären 356er-Nachbauten von Helfried Lindner aus dem nahe gelegenen Mohorn. Lindner baut nachweislich 13 Porsche-Coupés nach Vorgaben der Brüder Knut und Falk Reimann aus Dresden. Noch nach Kriegsende ist »Elbflorenz« die Stadt der Künstler und Gelehrten, von denen sich so viele mit begehrten Westautos schmücken, dass die Werkstatt gut und gern davon lebt.

Angetan von den wirtschaftlichen Möglichkeiten und beeindruckt vom Umgang der Richters mit der VW-Technik, übernimmt Jörg Pattusch kurzerhand den Kleinbetrieb. Dazu besorgt er sich die entscheidende Genehmigung, seine Werkstatt offiziell als »Spezialbetrieb für VW-Kfz-Fahrzeuge« führen zu können. »Zunächst hatte ich von Volkswagen überhaupt keine Ahnung«, bemerkt der heute Achtzigjährige schmunzelnd. Doch rasch arbeitet sich der frisch gebackene Unternehmer in die luftgekühlte Materie ein und macht bald auch Bekanntschaft mit Motorsportlern aus seinem Kundenkreis.

Zuerst regt ihn ein Österreicher aus dem Erzgebirge an, es ihm gleich zu tun und mit einem Karmann Rallyes zu bestreiten. Nach der eingangs beschriebenen, erfolgreichen ersten Saison sattelt Jörg auf einen Käfer um, der sich besser für den hemdsärmeligen Einsatzzweck eignet. Als Copilot gewinnt er den ebenfalls sportaffinen Kfz-ler Hans-Joachim Seifert aus Gotha. Für die Saison 1975 baut das junge Team den VW zum konkurrenzfähigen Wettbewerbsfahrzeug auf. Sogar aus Wolfsburg kommt Hilfe. In Ungarn unterhält das Volkswagenwerk ein reguläres VW-Servicenetz. Auf ihren Dienstreisen nach Budapest legen die Niedersachsen regelmäßig Zwischenstopp in Dresden ein. Die VW-Mitarbeiter versorgen Pattusch mit Know-how und Homologationsunterlagen für seine Rallye-Käfer. Jetzt weiß das »VW-Team DDR« welche Modifikationen möglich sind und optimiert seine Krabbler immer weiter. Zugleich trickst der gewiefte Motorsport-Kader die Bürokratie Ost mit kniffeligen Umbau-Genehmigungen aus, so dass in den Startunterlagen der Käfer wie folgt firmiert: VW 1500 Baujahr 1964 mit 1958er Fahrgestell. Die Motorbasis wird erst ein T2-Bus-Rumpf mit Typ 3-Zweivergaser-Anlage. Nach vielen weiteren Modifikationen leistet der Boxer letztlich 120 PS und schafft Tempo 180. Getestet wird der 1,6-Liter auf einem selbstgebauten Motoren- prüfstand mit Wasserwirbelbremse in einem Schuppen hinter der Werkstatt. Die Dickholmer-Karosserie wiederum erhält Polyester- teile von Rudi Schmoz aus Dessau. Der Plaste-Papst beliefert sämtliche VW-Werkstätten in der DDR mit selbstgefertigten Trittbrettern, Stoßstangen, Kotflügel, Motor- und Kofferraumhauben. Teile von Schmoz sind beliebt, weil sie wegen chronischer Materialknappheit im Sozialismus alternativlos sind und nicht rosten.

Erfolgreich nimmt der bunt lackierte Käfer an zahlreichen Rallyes teil. Sogar auf internationaler Ebene sorgt er für Aufsehen. Bei der Barum-Rallye in der CSSR treten Pattusch und Seifert 1976 im Training sogar erst mit dem T2-Werkstattwagen an. Erst belächelt, fahren sie in ihrer Klasse auf Rang vier und deklassieren zugleich die Konkurrenz aus Österreich, die über Material der legendären Salzburg-Käfer verfügt. 1978 fährt das Käfer-Team dann ganz vorn in der DDR-Meisterschaft mit und führt die Wartburg-Werkswagen des AWE ein ums andere Mal vor. Mit im Feld auch der Leipziger Käfer von Reinhard Pauli und Dr. Johannes Löw. Vor dem letzten Lauf liegt Jörg Pattusch trotz Schikanen und Behinderungen durch Diversanten – Agenten des MfS – auf Platz eins in der Klasse der Spezialtourenwagen über 1.000 Kubik. Der Sieg ist den Dresdnern nicht mehr zu nehmen. Doch am kommenden Tag gab es eine »Korrektur« von der Rennleitung: Man habe nachgeprüft – aus vier Sekunden Vorsprung wurde ein Rückstand von 56 Sekunden. Beim Sport versteht der Staatsapparat keinen Spaß. Die Quittung für das erfolgreiche Eindringen westlicher Güter fällt noch gemeiner aus. Zwischen den Zeilen teilt man den subversiven Elementen mit, dass sie Arbeit und Familie aufs Spiel setzen würden, wenn sie weiterhin den Klassenfeind unterstützen. Die Genossen bieten Jörg zum Besänftigen gar einen wettbewerbsfähigen Lada an, den er schlichtweg ablehnt. In Folge wird Seifert beruflich nach Angola abkommandiert und das motorsportliche SED-Reglement erfährt eine Änderung: Westautos werden aus dem DDR-Rennsport verbannt.

Monate später blättert Hans-Joachim Seifert in seinem afrikanischen Exil im SED-Sprachrohr »Neues Deutschland« und ließt: »Sieger der Rallye Wittenberge: Pattusch/Pauli auf VW 1500«. Was war geschehen? Der DDR-Motorsportverband untersteht den Regeln der FIA, die von Paris aus erfolgreich interveniert. Zumindest erwirkt die Dachorganisation einen Aufschub der DDR-Intrige bis zum Saisonfinale 1979.

Die frohe Kunde motiviert das sächsische Käfer-Team zu Höchstleistungen. Nach Seiferts Rückkehr unterstützt er Pattusch und Pauli organisatorisch. Sie gewinnen ein Rennen ums andere. Zur Überwachung der Zeitnahme-Stellen platzieren die Dissidenten eigene Posten aus ihrer Fangemeinde mit Käfern und VW-Bussen an den Stationen, um Manipulationen zu unterbinden. Der Rallye-Käfer gewinnt schließlich haushoch auch beim Finale. Jörg Pattusch und Reiner Pauli werden 1979 mit ihrem Volkswagen Rallye- Meister der Deutschen Demokratischen Republik.

Kurz nach ihrem fulminanten Sieg verschenkt Jörg den Käfer in Teilen und tritt nie wieder bei einem Rennen an. Nach der Wende geht der Unternehmer einen Händlervertrag mit Volkswagen und Audi ein. Heute zählt das Autohaus Pattusch zu den Großen in der Region Dresden. Bei seinem früheren Copiloten Hans-Joachim Seifert schließt sich der Kreis anderweitig. Er fährt seit einigen Jahren mit einem Opel Monza Oldtimer-Rallyes und wird 2019 RoadbookPrüfer bei der Rallye Elbflorenz.