Joachim Fischer
· 06.11.2022
Der neue Golf R Variant ist Extrem- Sportler und Familienkutsche zugleich. Mit 320 PS und 420 Nm bietet er reichlich Power, speziell aber eine spektakuläre Fahrdynamik. Der GF-Test
Nee, nee, das passt doch nicht zusammen. Der VW Golf Variant, quasi der kleine Bruder des Pampersbombers der Nation, ein echter Sportwagen? Das kleine Kürzel „R“ soll den großen Unterschied machen. Volkswagen verspricht es. Und wir neigen dazu, es zu glauben. Denn wir hatten zu GF 11/2021 bereits das Vergnügen, den R-Variant über den „Bilster Berg“ scheuchen zu dürfen. Hatte der GF-Redakteur damals die rosarote Brille auf? Nein, natürlich nicht! Und auch nicht Omas Küchenkräuter geraucht. Deshalb waren wir jetzt mega-gespannt, wie sich der neue Golf R Variant im GF-Test und im Alltag schlägt.
Erstmals wurde er 2017 auf Basis des Golf 7 angeboten und seit Herbst 2021 ist er nun auch als aktueller Golf 8 erhältlich. Doch mit dem Modellwechsel hat der R-Variant nicht nur etwas mehr Power und die neueste Plattform bekommen, sondern viel mehr. Es scheint fast so, als wären die Entwickler geradezu versessen darauf gewesen, herauszufinden, wie weit man Familienkombi und driftigen Sportler unter einen Hut zaubern kann – ohne dabei die Alltagstauglichkeit zu verlieren.
Torque Vectoring hinten
Versuchen wir das Rezept zu entschlüsseln und schauen dazu erst einmal auf die Hardware. Das Herz des Golf Variant R schlägt natürlich vorne. Der Zweiliter-Vierzylinder Turbo-TSI gehört zur jüngsten Evolutionsstufe des EA888, leistet 320 PS bei 5.350 bis 6.500/min und 420 Nm maximales Drehmoment zwischen 2.100 und 5.350/min. Das sind „nur“ 10 PS und 20 Nm mehr als auch schon der recht muntere Vorgänger bieten konnte. Die Kraft verwaltet wie gehabt ein serienmäßiges Siebengang-DSG. Mit an Bord ist auch wieder der 4Motion-Allradantrieb, der die Antriebsmomente bedarfsgerecht zwischen Vorder- und Hinterachse verteilt. Vorne glänzt er mit der elektronischen Differenzialsperre XDS, aber die spannendere Neuerung ist am anderen Ende zu finden: Hier haben die Ingenieure das Hinterachsgetriebe mit dem sogenannten R-Performance Torque Vectoring ausgestattet, das radselektiv, sprich je nach Grip und Fahrsituation, die Power auch noch zwischen rechtem und linkem Hinterrad verteilt. Hinzu kommt der Fahrdynamik-Manager, der elektronisch alle Informationen aus Antrieb und Fahrwerk bündelt sowie für maximale Traktion digital steuert.
Zwei Optionen für mehr Spaß
Soweit die Grundausstattung des Golf R Variant. Für maximalen Spaß und Alltagstauglichkeit sollte man aber auf zwei Optionen keinesfalls verzichten: Das R-Performance-Paket für 2.095 Euro und die adaptive Fahrwerksregelung DCC für 1.045 Euro. Ersteres bietet neben der eher unwichtigen Anhebung der Vmax von 250 auf 270 km/h zwei weitere Fahrprofile – „Drift“ und „Special“–, auf die wir gleich noch näher eingehen werden. Hinzu kommen 19-Zoll-Aluräder mit 235/35er Niederquerschnittsreifen. Serie sind 18 Zoll.
Das DCC sollte allein schon deshalb an Bord genommen werden, weil die adaptiven Dämpfer eine weite Spreizung zwischen besonders alltagstauglichem Abrollkomfort und verschiedenen sportlichen Einstellungen ermöglichen. Beide Systeme waren – neben vielen anderen Goodies – auch in unserem Testwagen montiert.
Zuerst der Check der Längs-Performance: Getriebe auf S, Launch Control durch ESC Sport oder ESC off aktivieren, links bremsen, dazu Gas geben, bis sich die Startdrehzahl bei 4.000/min eingependelt hat, Bremse loslassen – und ab geht’s. Wow, der R-Variant fetzt ansatzlos davon. Nach 4,9 Sekunden fällt die 100-km/h-Marke, nach 17,1 Sekunden wird die 200er-Schranke durchbrochen und der Vari rennt zügig der Vmax von 270 km/h (optional, Serie 250 km/h) entgegen. Das DSG wechselt die Gänge blitzschnell und nahezu ruckfrei, der Sound-Aktor (abschaltbar) erzeugt dazu einen etwas synthetischen, knurrig-rauchigen Klang. Eine auch außen emotionaler klingende Akrapovic-Sportabgasanlage ist für den R-Variant ab Werk leider nicht lieferbar.
Racen und Driften
Der Überholsprint von 80 auf 120 km/h gelingt mit drei Sekunden dafür umso eindrucksvoller. Die Fahrleistungen sind also absolut überzeugend, fallen einen Tick schneller als beim Vorgängermodell aus. Und die Querdynamik?
Hier ist der Golf R Variant eindeutig Chef im und am Ring – nur einen Tick weniger agil als der aktuelle Golf R Hatchback. Los geht’s mit der Wahl des passenden Serien-Fahrprogramms. Comfort, Individual, Sport und Race stehen am Touchscreen zur Wahl, Letzteres gibt noch den Zugriff frei auf „Special“ und „Drift“. Steigen wir doch mit „Sport“ ein und steigern uns dann. Die eigens auf die 19-Zöller abgestimmte Serien-Progressivlenkung strafft sich wie das DCC-Fahrwerk leicht. Der R-Variant zieht kontaktfreudig, aber nicht überhart abrollend seine Bahnen, nimmt Kurven auch bei hohen Tempi neutral und souverän, fühlt sich insgesamt für einen Kombi überraschend agil an. Nächste Fahrprofil-Stufe: Race. Alle Systeme werden noch einmal nachgeschärft. Das DSG schaltet weniger eifrig hoch und blitzschnell herunter. Die Progressivlenkung agiert messerscharf, zielgenau und fein rückmeldend, das Einlenkverhalten ist absolut Sportwagen-like. Der Vari tobt durch Kurven, als wäre es seine Bestimmung: hartes Anbremsen mit den serienmäßigen, fein dosierbaren18-Zoll-Stoppern mit sattem Druckpunkt, Einlenken und am Scheitel wieder voll aufs Gas. Traktion ohne Ende, das Heck lenkt ganz leicht mit, das ESC wacht mit allen Sinnen. Es ist eine Wonne!
Jetzt wird’s richtig ernst: „Special“ – das Profil für die Nürburgring-Nordschleife (wo der R abgestimmt wurde) und ähnlich anspruchsvolle Race Tracks! Zuerst am Touchscreen bestätigen, dass man weiß, was man tut, und dass diese Einstellung nur abseits öffentlicher Straßen genutzt werden sollte. Das DSG schaltet nun in Manual-Modus, die automatisierte Hochschaltung ist deaktiviert, das Getriebe kehrt auch nicht selbstständig in den Automatik-Modus zurück. Das ESC gibt viel mehr Spielraum, kann auf Wunsch auch ganz abgeschaltet werden. Das ist nur etwas für Könner!
Da bleibt kein Auge trocken!
Jetzt ist der Vari gefühlt einen Tick weicher abgestimmt, um etwa auch auf Kuppen und Curbs beste Traktion liefern zu können. Der „R“ ist unglaublich schnell, präzise und fahraktiv. Eine Einstellung für Bestzeiten.
Und „Drift“? Nun, der Name ist Programm. Das Hinterachsgetriebe leitet nun gezielt das maximal mögliche Drehmoment an das kurvenäußere Hinterrad. Beim Einlenken ein beherzter Tritt aufs Gas und es geht herrlich quer, optional auch ganz ohne ESC – wenn man kann und mag. Freilich, ein reiner Hecktriebler driftet noch etwas natürlicher. Na und? Es macht einen Riesenspaß!
Doch einen Golf R Variant kauft man nicht nur fürs Driften und Racen allein. Man schätzt und braucht den Kombi für die Familie, Urlaubsreisen oder Dienstfahrten. Dafür wählt man am besten das Fahrprofil „Comfort“. Die Dämpfung wird nun deutlich nachgiebiger, die 19-Zöller federn komfortabler an, die Progressivlenkung ist insbesondere beim Rangieren angenehm leichtgängig. Der Sound-Aktor schweigt und das DSG schaltet nun spritsparend früh hoch. Apropos Verbrauch: Im Testschnitt ermittelte GF 9,3 Liter Super Plus, im Minimum schafft man unter acht, im Maximum sind‘s auch mal über 13 Liter – jeweils pro 100 Kilometer.
Ansonsten fühlt man sich im Alltag wie in einem ganz gewöhnlichen Golf Variant. MIB3, Sicherheit, Assistenz – alles auf dem aktuellsten Stand. Und auch nach außen fällt man nicht übermäßig auf – pures Understatement, die gute alte Golf-Tugend.
R kann auch komfortabel
Kritik? Einzig, dass man bei einem Grundpreis von 54.175 Euro für den Golf R Variant noch ziemlich viele Pakete für ultimative Sportlichkeit und mehr Komfort zukaufen muss.
GUTE FAHRT mäkelt auch gerne an der ausufernden Digitalisierung herum – insbesondere bei der Bedienung. Das gilt auch für den R-Vari. Doch bei ihm wurde das Digitale von den VW-Ingenieuren zudem genutzt, um per Fahrdynamik-Manager eine Maximierung von Fahrspaß und zugleich Alltagstauglichkeit zu generieren. Chapeau – und tiefe Verbeugung!
Test kompakt
Der überarbeitete Golf R Variant ist der Hammer! Sein Vorgänger war schon Spitze, doch der Neue lässt richtig die „Sau“ raus. Ob Familien- Urlaubsfahrt mit Kind und Kegel, auf Dienstreise oder am Wochenende auf der Rennstrecke – der Variant R glänzt überall gleichermaßen. Unglaublich! Und spätestens wenn im Drift die Fliegen aufs Seitenfenster klatschen, hat man Freudentränen in den Augen. Ganz ehrlich!