Arne Olerth
· 26.07.2023
Trübe Stimmung? Galoppierende Energiepreise und die drastische Inflation schlagen Vielen auf die Laune – ausgelöst durch einen brutalen Angriffskrieg. Wie die Älteren unter uns wissen, wiederholt sich die Geschichte. Schon vor einem halben Jahrhundert nämlich verhagelte ein ähnliches Szenario die Freude. Arabische Staaten überfielen Israel – im Herbst vor 50 Jahren. Die Erdöl exportierenden Länder reduzierten ihre Fördermengen und verhängten Lieferboykotte – Reaktionen auf die Unterstützung Israels durch westliche Staaten. In Folge explodierte der Ölpreis genauso wie die Inflation. Legen heute Klimaaktivisten Straßenzüge Berlins lahm, so wurde damals gleich das gesamte Autobahnnetz an mehreren Sonntagen gesperrt. Zudem brach der Pkw-Verkauf ein, die Autobauer mussten Kurzarbeit anmelden. Spardiktate, Beschränkungen und Verzicht allerorten – Autofahren in den frühen Siebzigern war so spaßig wie das Verfassen einer Steuererklärung.
Das änderte sich 1976. Volkswagen brachte den Golf GTI und die Autowelt stand Kopf: Er war der lustvolle Gegenpol zum vernünftigen Ur-Golf, der zu Zeiten des Ölpreisschocks gerade mit Sparsamkeit punktete. Hier aber stand ein echter Sportwagen im Kompaktklasseformat vor den staunenden Autofans, tönte frech die Botschaft: Autofahren darf wieder Spaß machen! Es gab richtige Sportsitze, 175er-„Breitreifen“ und einen rot gerahmten Kühlergrill, der schon von Weitem die Potenz des ersten Hot Hatches ausdrückte. 110 PS waren mehr als das doppelte, was die beliebte, da sparsame Einstiegsversion des Golf mit 50 PS mobilisierte. Dank 870 Kilogramm Leergewicht bot der GTI ein Leistungsgewicht von 7,9 Kilo pro PS und süchtig machenden Fahrspaß. Der Rest ist bekannt: Die Fans griffen begeistert zu, der GTI avancierte zum Kassenschlager.
Ursprünglich als Sonderserie mit einer Auflage von 5.000 Einheiten geplant, wurden schon im ersten vollständigen Produktionsjahr 1977 knapp 22.000 Einheiten zugelassen. Der GTI reifte zur Ikone, ist fester Bestandteil der Golf-Familie.
Und heute? Genießen die drei Buchstaben unter Autofans längst Kultstatus. Der GTI ist der klassenlose Sportler der Golf-Familie. Einer, der weit über die Kreise der VW-Fans hinaus Ansehen genießt, das Urmeter aller Hot Hatches. Selbst der noch potentere Golf R beißt sich seit 20 Jahren an ihm die Zähne aus, vermag die Strahlkraft des GTI nicht zu schmälern. Und das hat gute Gründe: Neben seinen sportlichen Talenten präsentiert sich der GTI auch als optischer Leckerbissen. Wabengitter, Karomuster und rote Kontraste – die Fans wissen, was hier gemeint ist. Dabei wurde stets die perfekte Balance gefunden: Der GTI dreht die Köpfe, gleitet aber nie ins Prollige ab. Mit ihm kann man sich überall sehen lassen, ganz gleich, ob auf einem Geschäftstermin, dem Elternabend oder der Cars&Coffee-Veranstaltung am Wochenende. Er bietet die überzeugende Alltagstauglichkeit, die jeden Golf auszeichnet. Und bleibt der Golf R einem exklusiven Zirkel vorbehalten, so ist der GTI für die meisten noch gerade so erschwinglich.
Für den 2023er-Jahrgang bedeutet das konkret: 40.905 Euro. Alufelgen, Sportsitze und LED-Scheinwerfer gehören genauso zur üppig zusammengestellten Serienausstattung wie das Digital Cockpit Pro, eine 30-farbige Ambientebeleuchtung, ein Multifunktions-Sportlenkrad in Leder, App-Connect zur drahtlosen Handy-Spiegelung, die Fahrprofil-Auswahl, eine Vorfeldbeleuchtung und vieles mehr. Sogar die große Climatronic ist an Bord. Der Testwagen rollte zudem mit DSG-Getriebe auf den Hof. Gusseiserne GTI-Fans werden freilich zum Handschalter greifen, das den Fahrer noch enger ins Geschehen mit einbindet, doch der DSG-GTI (43.155 Euro) bietet Vorteile: Er nimmt dem Handschalter im Sprint 0,2 Sekunden ab, verbraucht weniger und verwöhnt im Alltag mit Automatikkomfort.
Der Schlüssel zum GTI-Erlebnis sind der potente Turbomotor, das piekfein applizierte Fahrwerk und weitere technische Goodies. Der Zweiliter-Vierzylinder etwa leistet satte 245 PS und leitet bis zu 370 Newtonmeter an die Vorderräder. Damit diese möglichst verlustfrei in Vortrieb umgewandelt werden, gibt es eine mechanische Quersperre, die zudem stufenlos regelbar ist – ein technischer Leckerbissen. Je nach Fahrmodus, Gierrate, Lenkwinkel und Geschwindigkeit sperrt das System die Achse mehr oder weniger, verhindert damit etwa Radschlupf am kurveninneren Rad. Im Vergleich zum zivilen Golf haben die Ingenieure den GTI um 15 Millimeter tiefer gelegt, das anerkannt hohe Dynamik-Niveau des Golf 7 GTI-Vorgängers deutlich übertroffen. So kommen neben weiteren Mods neue Querlenkerlager und frisch abgestimmte Dämpfer zum Zuge. Die Federn fallen kräftiger aus – um fünf Prozent vorne und 15 Prozent hinten. Eine Progressivlenkung setzt die Richtungsanweisungen des Fahrers um, würzt das Handling mit Agilität und entspannt bei schneller Geradeausfahrt.
Fahrdynamikmanager, variable Quersperre, XDS+, adaptives Sportfahrwerk, Progressivlenkung und der potente Turbomotor verschmelzen im Golf GTI zu einem süchtig machenden Fahrspaß-Paket. Wo bitte ist die nächste kurvenreiche Landstraße?
Der Testwagen optimiert die Dynamik zudem mit zwei uneingeschränkt empfehlens- werten Optionen: Zum einen steht er auf 18-Zoll-Rädern (705 Euro), deren Reifen mit 40er-Querschnittsverhältnis für mehr Präzision sorgen, als es die 45er-Pneus der 17-Zoll-Serienräder tun. Hier wie dort kommen performante Sportreifen zum Einsatz, in unserem Falle Bridgestone Potenza S005. Optional sind auch 19-Zöller wählbar, die aber nur mit dem adaptiven DCC-Fahrwerk (1.045 Euro) ausgeliefert werden. Das ist bei WOB-DE 784 ebenfalls an Bord und quasi ein Muss – sowohl unter Dynamik- wie Komfort-Gesichtspunkten. Radselektiv wird hier die Dämpfkraft etwa 200 mal pro Sekunde an die jeweilige Fahrsituation und den gewählten Fahrmodus angepasst. Damit bietet der Golf GTI jederzeit maximale Präzision bei bestmöglichem Komfort. Die Grundauslegung zwischen straff und komfortabel kann dabei individuell eingestellt werden. Zudem minimiert das DCC-Fahrwerk je nach Fahrmodus die Karosseriebewegungen, wirkt übermäßigem Wanken entgegen.
Einen legt der GTI noch obenauf: den neuen Fahrdynamikmanager (Serie). Das System choreografiert die mechanische Quersperre, die elektronische Differentialsperre XDS Plus und in unserem Falle auch das DCC, sorgt durch ihr perfektes Zusammenspiel stets für bestmögliche Dynamik.
Und die wollen wir endlich erfahren, pilotieren den Kings Red Metallenen GTI zur abgesperrten Messstrecke. Motor und Pneus sind auf Betriebstemperatur, wir aktivieren die Launch Control (Sportmodus und ESC off): Bremse treten, Vollgas! Der TSI dreht mit etwa 4.000 Touren, fordert gierig nach mehr. Soll er haben: Bremse lösen – und der GTI schießt wie ein gereizter Bull-Terrier aus dem Startblock. Die Launch Control erlaubt definierten Schlupf, das DSG feuert bei sechsacht die nächste Fahrstufe ein. Wow: Nach nur 6,0 Sekunden ist Tempo 100 Geschichte (Werkangabe: 6,2 s), nach 21,3 Sekunden liegen schon 200 km/h an. Und weiter geht es bis 250 Stundenkilometer. Der Sportgolf untermalt die Hatz mit einem herrlich rauchigen Sound aus seinen zwei unterarmdicken Endrohren.
Längsdynamisch rockt der 23er-GTI also, wie aber steht es um die Querdynamik? Der Handling-Parcours liefert Antworten – und am Steuer des Golf GTI satten Fahrspaß. Fahrwerke bauen können sie, die Jungs aus Wolfsburg. Das unterstreicht der GTI eindrucksvoll. Zudem haben sie das Technikarsenal zu einem beeindruckenden Gesamtkunstwerk kombiniert.
Eine Wechselkurve fliegt heran, die kräftige Bremse verzögert auf den Punkt, der GTI folgt präzise den Richtungsbefehlen am Sport-Volant. Das kommuniziert erfreulich freizügig mit dem Piloten, ohne dabei geschwätzig zu wirken. Die Sportpneus bauen hohe Seitenführungskräfte auf, der GTI klinkt sich in die Ideallinie ein – ohne störendes Untersteuern. Vielmehr zieht die Quersperre den GTI in die vorgegebene Richtung, begleitet von einem winzigen Impuls am Sportvolant. Mit kleinen Lenkwinkeln setzt der GTI in der Wechselkurve um, Wankbewegungen sind dabei kaum feststellbar und der Pilot findet perfekten Halt in seinem Sportsitz. Klasse.
Gierig hängt der EA888-Motor am Gas, liefert jederzeit den geforderten Punch – ein Verdienst des breiten Drehmomentplateaus, das der TSI zwischen 1.600 und 4.300 Umdrehungen aufspannt. So neutral der GTI ums Eck geht, so traktionsstark zeigt er sich dank Sperre am Kurvenausgang. Hier darf der Pilot voll aufs Gas – dank gesperrter Antriebsachse und notfalls korrigierenden XDS-Bremseingriffen innen stürmt der GTI traktionssicher und spurstabil aus der Kehre. Das DSG schießt dazu die passenden Fahrstufen ein.
Mehr Spaß freilich macht die sportliche Hatz mit den Schaltpaddles. Schade nur, dass das DSG trotz manueller Schaltung die Gänge im Drehzahlbegrenzer wechselt – irritierend auf dem Track. Schnelle Runden zeiten sind mit dem GTI dennoch auch für den Novizen problemlos möglich. Der darf sich auf abgesperrtem Geläuf auch im Sportmodus oder mit deaktiviertem ESP versuchen: Die Grundabstimmung des GTI ist narrensicher, zudem wacht die Stabilitätskontrolle immer im Hintergrund, um im Extremfall doch noch korrigierend eingreifen zu können.
So straff und fordernd der GTI sich auf dem Track zeigt, so entspannend ist er im Alltag – und damit sind nicht nur seine Vorzüge bei der Parkplatzsuche als Kompaktwagen gemeint. So wie Volkswagen dem ersten GTI bescheinigte, „auch zum Einkaufen in Schrittgeschwindigkeit ruckfrei zu fahren“, so zeigt sich auch der aktuelle GTI bei Bedarf lammfromm. Auf der Langstrecke im Normal- oder Comfort-Modus verwöhnt er im beinahe gleichen Maße wie seine zivilen Brüder – die Spreizung des DCC-Fahrwerks macht’s möglich. Wenngleich dem Sound auch hier eine sportliche Grundnote erhalten bleibt, so wird er auf Langstreckenfahrten nie nervig. Musikliebhaber dürfen also das klanggewaltige 8+1-Soundsystem von Harman Kardon ordern, ohne störende Klangeinbußen befürchten zu müssen.
Schmeichelnd ist der Verbrauch von 8,1 Litern auf der normierten GF-Runde. Lässiges Cruisen belohnt der GTI mit etwa sieben Litern. Wer das volle Potential des EA888 ausreizt, fährt aber zweistellig. Übrigens: Dieser ist trotz gleicher Leistung nicht identisch mit dem Performance-Triebwerk des letzten GTI. Der neue gehört zur Generation „evo4“ mit Optimierungen im Bereich Schadstoffarmut und Leistungsentfaltung. Dazu gibt es etwa einen von 200 auf 350 bar erhöhten Einspritzdruck, OPF und Kat mit größerem Volumen und vieles mehr.
Auch in Sachen Assistenz und Konnektivität untermauert der GTI seinen Referenzstatus: Das Digital Cockpit kann mit einem Head-up-Display, Sprachbedienung oder Online-Diensten ergänzt werden. Unterstützt der Hot Hatch ab Werk mit Frontund Lane-Assist sowie Abbiegebremsfunktion, so kann der Interessent aus dem ganzen Spektrum modernster VW-Assistenten wählen: Verkehrszeichenerkennung, Parklenkassistent und Ausstiegswarnung etwa sind möglich, wie auch das teilautomatisierte Fahren (Travel Assist), bei dem der GTI entlastend auf der Langstrecke Lenken, Bremsen und Gasgeben übernimmt. Zum Entfliehen vor täglicher Tristesse freilich ist das eigenhändige Pilotieren des Golf GTI bestens geeignet. Das war auch 1976 schon so – und gilt heute ganz besonders.
Test kompakt
Knapp ein halbes Jahrhundert Bauzeit haben den Golf GTI zu einem Filetstück deutscher Automobilbaukunst reifen lassen. Der aktuelle Jahrgang zelebriert eine freudvolle Fahrdynamik, die man einem Fronttriebler kaum zutrauen möchte – gänzlich ohne Starallüren. Fahrspaß erleben ist mit dem GTI ein Leichtes. Dabei werden die Alltagstugenden nicht kasteit. Liebevoll verfeinert rollt der GTI zudem mit opulenter Ausstattung zum Kunden. Und ist für viele erreichbar. Kult? Völlig zu recht!
Technische Daten
Fahrwerk
Testwagen: 225/40 R 18 auf 7,5 J x 18 Alufelgen im Bergamo-Design
Motor
Emissionsklasse: Euro 6d-ISC-FCM
Karosserie
Assistenten
Serie:
Optional (Auswahl):