Joshua Hildebrand
· 03.08.2021
Mit 320 PS und neuem Aktiv-Allradantrieb zeigt sich das Technik-Paket des ersten Tiguan R ziemlich vielversprechend. Kann er auch im Alltag überzeugen?
Gerade wollten wir schon fleißig in die Tasten hauen, um unseren Senf zum neuen Tiguan R hinzuzugeben, da trudelt plötzlich die Meldung über das 250.000ste Volkswagen-R-Modell ein. Welch Steilvorlage für diesen Test …
Ja, alles begann im Jahr 2002 mit der Gründung der R GmbH, die es sich zur Aufgabe machte, Volks-Wagen die sportliche Würze zu verpassen – allen voran der Golf 4 R32. Knapp 20 Jahre später bilden T-Roc R, Touareg R eHybrid, Arteon R, Arteon R Shooting Brake, Golf R und der Tiguan R eine vollumfängliche Sportwagen-Armada. Dass man laut Peter Jost, Vertriebsleiter der R GmbH, auch in der Wolfsburger Sportabteilung mit Hochdruck an der Transformation und dem Way To Zero Emission arbeitet, soll uns hier nur bedingt interessieren. Weil VW R hier etwas ganz bedeutsames auf die Räder gestellt hat: nicht weniger als den allerersten Tiguan R aller Zeiten!
So etwas ist für uns Autojournalisten immer etwas Besonderes: Ein Auto zu bewegen, dass es in dieser Form noch nicht gab. Wir möchten wissen, wie sich die Golf-R-Technik in ihm anfühlt. Der Respekt- abstand zum kleineren Bruder T-Roc R (GF 3/20) ist jedenfalls da, vor allem preislich: Er ist einen VW Up! – also circa 13.000 Euro – günstiger. Was sich erst einmal ziemlich heftig anhört, relativiert sich aber schnell, wenn man die Datenblätter miteinander vergleicht. Der Top-Tiguan ist das eindeutig erwachsenere, größere und modernere Auto. Und vor allem: das sportlichere. Mit dem ikonischen 2.0-TSI-Aggregat EA888 Evo 4 steht er jedenfalls ordentlich im Futter und bietet einen guten Kompromiss aus Leistungsfähigkeit und Effizienz. Dennoch sollten Käufer starke zehn Liter Durchschnittsverbrauch (Super Plus) in Kauf nehmen – eine „R“-andnotiz.
Aktiv-Allrad des Golf R
Skeptiker werden anmerken, dass „hochbeiniges Gewicht“ im Widerspruch zum sportlichen Fahren stehen mag. Jedoch ist es erstaunlich, welch hohes Level der Tiguan R für seine SUVile Fahrzeugklasse abliefert. Bereits ab 2.100 und bis über 5.300 Umdrehungen steht das volle Drehmoment von 420 Newtonmeter zur Verfügung. Nach nur einem Wimpernschlag hat der Lader seinen Betriebsdruck aufgebaut, die digitale Nadel der Sportanzeigen im Infotainment schnellt über die Zwei-punkt-null-Marke. Das fetzige SUV zeigt unweigerlich: „Ich bin bereit, gib mir die Sporen!“ Gar kein Problem! Der Launch-Control-Start sorgt für einen ordentlichen Katapult-Effekt, so dass man im manuellen Schaltmodus des 7-Gang-DSG kaum hinterherkommt. Hier empfiehlt sich der Automatik-Modus, auch wenn in allen anderen Situationen das „Paddlen“ deutlich mehr Freude bereitet. Warum? Weil das Doppelkupplungsgetriebe selbst im sportlichen Fahrbetrieb tendenziell effizient arbeitet und recht früh in höhere, niedrigtourige Gänge schaltet. Wir aber möchten das neuartigen 4Motion-Allradantrieb mit R Performance Torque Vectoring fordern. Im Grunde genommen ist es ein neues Hinterachsgetriebe samt zweier Lamellenkupplungen, welches die Motorenmomente variabel zwischen Vorder- und Hinterachse und – als Novum – variabel zwischen dem linken und rechten Hinterrad verteilt. Jenes wird auch im Golf 8 R verbaut, dem (leider) auch der spezielle Drift-Modus vorbehalten bleibt.
Egal. Unter Zug und mit Drehzahlen über der 4.000 fühlt sich der Allradantrieb besonders wohl. Ja, der R zeigt fahrdynamische Raffinesse und gibt immer genau so viel Drehmoment an die hinteren Räder weiter, wie nötig ist. Dann schwänzelt der Tiguan R mit ausgeschaltetem ESC auch gern mal mit dem Heck, was vor allem auch subjektiv für Spritzigkeit sorgt.
Jedenfalls ist das Perofrmance-SUV nicht zu untersteuernd ausgelegt, überrascht aber auch nicht mit unvorhersehbaren Lastwechselreaktionen. Oder anders: Das Handling bleibt stets beherrschbar und ausgewogen. Man merkt auch gar nicht, dass der R im Normalbetrieb effizienzbedingt ausschließlich über die Vorderräder angetrieben wird, denn das Zuschalten der Hinterachse geht im Bedarfsfall automatisch, blitzschnell und völlig unmerklich von statten. Dann spüren wir, wie der aktive Allradantrieb für eine sensationelle Traktion in allen Lebenslagen sorgt. Durchdrehende Räder? Was ist das? Kennen höchstens von anderen Verkehrsteilnehmern, wenn die in ihren Fronttrieblern mal wieder um Traktion winseln – sorry fürs Lästern …
Wir nehmen die nächste Kurve ins Visier. Über die R-Taste am Lenkrad der gelangen wir direkt in die Fahrprofilauswahl (Comfort, Sport, Race und Individual). So haben wir die Möglichkeit, Lenkung, Dämpfung, Gasannahme und (künstlich verstärkten) Motor-Sound von angenehm komfortabel bis hin zu ordentlich sportiv zu verstellen. Die Abgrenzung zu den herkömmlichen Tiguan-Ausführungen ist vor allem im Race-Modus am deutlichsten wahrzunehmen. So gibt sich die serienmäßige Progresssivlenkung bissig und zeigt bereits bei kleinen Lenkwinkeln nachvollziehbare Richtungswechsel-Reaktionen.
Ein SUV? Ja, es ist ein SUV!
Vor allem aber strafft sich das serienmäßige Adaptivfahrwerk, so dass die Rollbewegungen der Karosserie auf ein sehr verträgliches Maß reduziert werden. Fast vergaßen wir, in einem SUV zu sitzen. Faszinierend. Auch, weil der Turbo-Vierzylinder dank Akrapovic-Titanauspuffanlage (R Performance; 3.800 Euro) richtiges Sportwagen-Flair mitbringt – knalliges Auspuff-Plobben inklusive! Das Angenehme: Trotzdem bleibt der R ein echter Tiguan, der nicht nur für ein überdurchschnittliches Platzangebot steht. Auf Wunsch lässt er sich auch ganz alltagsverträglich bewegen – sogar mit Hänger,
wenn es sein muss. Und selbst da macht er stets eine gute Figur: Lack in Lapiz Blue Metallic (810 Euro), Stoßfänger im R-Design, große Lufteinlässe, Spiegel in matter Chromoptik, ein auffälliger Heckdiffusor, schwarze Radhausverbreiterungen, eine vierflutige Abgasanlage und 20-Zöller gibt‘s aufpreisfrei. Und auch innen ist der Tiguan R auch ohne viele Extras schon sehr hübsch: exklusiv für den R entwickelte Sportsitze mit gutem Seitenhalt, Digital Cockpit samt Laptimer und R-spezifische Dekoreinlagen („Carbon Grey“). Nein, am allerersten Tiguan R gibt es wirklich nichts auszusetzen. Einzig die neue Lenkrad- und Klimabedienung zeigte sich im alltäglichen Gebrauch etwas fummelig. Eine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, wie grandios sich dieses meisterliche SUV fahren lässt!