Unbekannt
· 16.10.2013
Aerodynamik ist nicht nur im Motorsport ein Zaubermittel. Der neue Porsche 911 Turbo bringt deshalb neben einem verstellbaren Heckflügel erstmals auch an der Front eine selbst ausfahrende Spoilerlippe auf die Straße.
Luft bremst – jedes Kind, das die Hand aus dem Fenster eines fahrenden Automobils hält, macht diese Erfahrung. Ab etwa 80 Kilometern pro Stunde wird die Luft zum absolut dominanten Widerstand, der sich weiterer Beschleunigung entgegen stemmt und mit Motorkraft überwunden werden muss. Zudem steigt er bei Verdoppelung der Geschwindigkeit im quadratischen Verhältnis, erhöht sich also um das Vierfache. Da ist es kein Wunder, dass insbesondere Sportwagenhersteller wie Porsche auf einen möglichst geringen Luftwiderstand ihrer Fahrzeuge achten, um auch schon mit weniger Motorleistung möglichst hohe Endgeschwindigkeiten erzielen zu können. Das war insbesondere in den 50er Jahren so, als der Porsche 911 als Nachfolger des 356 konstruiert wurde und die Motorleistung noch nicht in den Himmel wuchs. Heute nutzt man den Effekt, um Kraftstoff einzusparen.
Seine Tropfenform verlieh dem 911 nicht nur sein bis heute unverwechselbares Design sondern auch einen sehr günstigen Luftwiderstand für beste Fahrleistungen sowie eine herausragende Effizienz beim Kraftstoffverbrauch. Mit zunehmender Geschwindigkeit bereitet diese Form aber auch Probleme. Im Querschnitt einem Flugzeugflügel ähnlich erzeugt sie bei zunehmenden Tempi immer mehr Auftrieb – der ist im Flugzeug erwünscht, im Auto nicht.
Das führte dazu, dass Porsche seine vielfältigen Aerodynamik-Erfahrungen aus dem Motorsport nach und nach auch in die Serie einfließen ließ: So kam 1971 der 911 S mit dem ersten Frontspoiler heraus. Dieser beschleunigte den Luftstrom unter dem Fahrzeug und leitete einen Teil der Luft seitlich am Wagen vorbei. Das verringerte den Luftwiderstand und zugleich den Auftrieb an der Vorderachse. Ein weiteres Beispiel ist der legendäre "Entenbürzel-Heckspoiler" des Carrera RS 2.7 von 1972, 1973 trug der erste 911 Turbo einen großen, feststehenden Heckspoiler. Beide gewährten der stetig aerodynamisch weiterentwickelten 911-Karosserie den nötigen Abtrieb an der Hinterachse bei gleichzeitig weiterer Reduzierung des Luftwiderstands, höheren Fahrleistungen und sinkendem Kraftstoffverbrauch.
Selbstverständlich wurden auch der Fahrzeug-Unterboden sowie die Luftführungen zur Kühlung von Aggregaten und Bremsen mit in das Gesamtsystem einbezogen und stetig weiter optimiert. 1988 folgte dann mit dem ausfahrbaren Heckspoiler des Turbo-Modells der Elfer-Baureihe 964 der Schritt zur adaptiven Aerodynamik, die heute an jedem Heck eines Porsche-Serienmodells – mit Ausnahme des Cayenne – anzutreffen ist.
Der brandneue 911 Turbo schlägt nun das nächste Kapitel in der Geschichte der adaptiven Aerodynamik bei Porsche auf. Er bezieht als erstes Serienfahrzeug für die Straße auch den Frontspoiler mit ein. Das PAA (Porsche Adaptive Aerodynamics) genannte System erhöht durch seinen zweistufig ausfahrbaren Bugspoiler und den in Höhe und Neigung verstellbaren Spaltflügel am Heck die Alltagstauglichkeit und Effizienz, sorgt für den Ausgleich der Auftriebskräfte des als S-Modell bis zu 560 PS starken und 318 km/h schnellen Turbo-Elfers und ermöglicht auf Kundenwunsch obendrein per Knopfdruck eine Performance-Einstellung, die für rennstreckengerechten Abtrieb sowie Fahr-Performance sorgt.
Und das funktioniert so: Im Stand und bis 120 km/h sind Spoiler vorne und Flügel hinten komplett eingefahren. So kann der Elfer unverfälscht seine klassische Designlinie zeigen – und gewährt an der Front nun gar einen Böschungswinkel von 10,3 Grad gegenüber 7,8 Grad beim Vorgänger-Modell. Das heißt einfacheres und kratzfreies Ausfahren auch aus Tiefgaragen mit steilen Auffahrten und sorgenfreieres Parken an Bordsteinen auch ohne Frontlift-System.
Ab 120 km/h – falls der Fahrer zuvor nicht die Aerodynamik- oder Sport-Plus-Taste betätigt hat – wird automatisch der sogenannte "Speed"-Modus angesteuert. Am Bug fahren die äußeren Segmente der dreiteiligen Frontspoiler-Lippe aus, die Mitte verbleibt in Ausgangslage. Dies geschieht pneumatisch gesteuert durch aufblasbare Elemente an der Rückseite der Lippe. Das bringt Abtrieb an der Vorderachse und einen verbesserten Luftwiderstand. Am Heck wird gleichzeitig elektrisch angetrieben der Heckspoiler um 25 Millimeter hochgefahren – es entsteht ein Spaltflügel. Die Luft streicht über das Flügelblatt und strömt zwischen Flügelbett und konvex geformter Unterseite (erzeugt Abtrieb) des Flügelblattes hindurch. Das verleiht dem 911 Turbo einen sehr niedrigen Luftwiderstand und ermöglicht die Vmax von bis zu 318 km/h. Bei Unterschreiten der Grenze von 80 km/h fahren die Systeme automatisch und synchron wieder in Ruhestellung zurück.
Darüber hinaus kann der Fahrer durch einen Druck auf die "Sport Plus-Taste" auf der Mittelkonsole den "Performance-Modus" aktivieren. Dabei wird nun auch das Mittelteil des Bugspoilers komplett ausgefahren und am Heck hebt sich simultan der Flügel um insgesamt 75 Millimeter, das Flügelblatt wird zudem um 7 Grad nach vorne angewinkelt. Diese Maßnahmen katapultieren den Turbo-Elfer in eine aerodynamisch neue Dimension für ein Straßen-Fahrzeug.
Bei Tempo 300 werden statt der insgesamt neun Kilo im Speed-Modus nun gewaltige 132 Kilo Abtrieb über den gesamten Wagen erzeugt. Die maximal mögliche Querbeschleunigung bei diesem Tempo steigt um bis zu 10 Prozent. Der Turbo stößt damit in Bereiche vor, die bislang nur Porsche GT-Sportwagen vorbehalten waren. Die Rundenzeit auf der Nordschleife des Nürburgrings soll sich so um satte zwei Sekunden verkürzen. Das erklärt auch, dass ab 270 km/h nicht mehr manuell verstellt werden kann und darunter der Heckspoiler mit einer Verzögerung von rund vier Sekunden auf den Bugspoiler in "Speed"-Stellung zurückfährt, um einer Instabilität vorzubeugen.
Gleich in mehreren Punkten patentieren lassen hat sich Porsche seinen pneumatisch ausfahrenden Frontspoiler. Ein solches System kommt weltweit erstmalig bei einem straßenzugelassenen Sportwagen zum Einsatz und verdient eine genauere Betrachtung. Die drei Aktuatoren hinter der Spoilerlippe bestehen jeweils aus einem aufblasbaren Fünf-Kammer-System. Sie werden aus einem geschlossenen Druckspeicher gespeist, der insgesamt zwei Liter Luft bei 0,8 bar liefert oder abzieht und links vorne im Kofferraum unter der Verkleidung verstaut ist.
Die einteilige Lippe selbst ist aus einem sogenannten EPDM-Kautschuk (Ethylen-Propylen-Dien-Monomer) gefertigt, dessen Zusammensetzung mit Blick auf dauerhafte Temperaturbeständigkeit, Elastizität und Robustheit gegen Sonne, Salz, Öl, Benzin oder auch Reinigungsmittel speziell weiterentwickelt wurde. Die Spoilerlippe liegt im Ruhezustand durch die Vorspannung des Elastomers und zusätzliche Permanent-Magnete fixiert horizontal nach hinten gebogen in der Bugverkleidung. Durch die drei dahinter angebrachten Aktuatoren kann die Lippe in Sektoren aus- und eingefahren werden. Die Steuerung der äußeren Sektoren erfolgt immer synchron, zum Ausfahren werden die äußeren Pneumatik-Elemente aufgeblasen. Dadurch wird die Lippe nach unten geklappt und mit einer konkaven Wölbung in den Luftstrom gestellt. Durch die hohe Dreh- und Dehnbarkeit des Bauteils bleibt das mittlere Segment dennoch eingeklappt. In Performance-Stellung wird dann auch das mittlere Stück ausgefahren, die Aktuatoren spannen jetzt die gesamte Lippe, die sich an der unteren Kante um bis zu zehn Prozent ausdehnt.
Neben der Flexibilität im Einsatz bietet das System durch den elastischen Werkstoff und die pneumatische Betätigung zudem einen hohen Schutz vor Beschädigung durch Aufsetzen, Überfahren von Schwellen und Gegenständen oder Anstoßen an Bordsteinen.
Aber auch der vielfach verstellbare Heckflügel ist eine komplette Neukonstruktion. Er arbeitet mit zwei getrennt steuerbaren elektrischen Hubmotoren für eine stufenlose Einstellung von Ausfahr-Höhe und Anstellwinkel (in der linken Flügelstütze). Dies ist für Ausstattungsvarianten – etwa mit Schiebedach – wichtig, bei denen eine andere Flügel-Stellung nötig ist. Und wie fährt sich der neue 911 Turbo mit seiner revolutionären Aerodynamik? Nun, das konnten wir bislang nur vom Beifahrersitz aus erleben. Doch die Wedelversuche auf einer abgesperrten Flughafen-Landebahn jenseits von Tempo 200 waren bereits ausgesprochen beeindruckend. In Performance-Stellung folgte der Turbo jedem Lenkeinschlag wie auf Schienen, ließ keinerlei Unruhe im Heck aufkommen.
Mit zur Demonstration mutwillig außer Kraft gesetztem PAA-System und Spoiler in Ruhezustand verlangte er dagegen bei gleichem Tempo schon eine kundige Hand am Lenkrad, um auf Kurs zu bleiben. Porsches Adaptive Aerodynamik ist also ganz sicher keine Luft-Nummer.