Tief im Mahdental auf der ehemaligen Solitude-Rennstrecke vor den Toren Stuttgarts ist plötzlich ein heiseres Röhren zu vernehmen. Das Echo peitscht durch das Tal und wird immer lauter. Zwei kräftige Gasstöße zum Herunterschalten signalisieren dem Solitude-Rennstrecken-Kenner die Position des Wagens. Er hat den damaligen Kontrollpunkt »Spitzklinge« passiert und taxiert die richtige Geschwindigkeit für die letzte Rechts-Links-Kombination der Mahdental-Kurven. Dann ist die schmale
Silhouette eines roten 911 zu erkennen. Lautstark prescht der Wagen am »Start-und-Ziel-Häuschen« vorbei, um kurz darauf links in die »Glemseck«-Kurve einzubiegen. Der Elfer beschleunigt nochmals kräftig, bevor beim Zurückschalten in den zweiten Gang Flammen aus den langen Endrohren flackern. Die »Hedersbach«-Kurve ist mit rund 60 Stundenkilometern möglich, es folgt die gnadenlose Bergaufpassage zum »Frauenkreuz«, die Vollgas verträgt. Die Formel 1 fuhr hier Anfang der 60er Jahre über 200 Kilometer pro Stunde. Der 911 machte das an diesem schönen Spätsommertag deutlich langsamer. Dann ist der Sechszylinder zu weit weg und es bleibt schließlich nur ein Nachhall im ehemals herzoglichen Rotwildpark.
»Was war denn das?«, fragen sich die Besucher des Biergartens am geschichtsträchtigen Restaurant Glemseck, unserem Standort. Fotograf Markus Bolsinger schmunzelt und Autor Tobias Aichele klärt dieses Erlebnis schließlich auf. Eberhard Mahle, Sohn des Kolben-Imperium-Gründers Ernst Mahle, feiert gerade sein Wiedersehen mit dem 911, mit dem er im Jahr 1966 die Europa-Bergmeisterschaft gewinnen konnte. Und sichtlich ist für ihn die Zeit stehen geblieben. Schon vor 53 Jahren jagte er diesen 911 jede Woche um den 11,6 Kilometer langen Solitude-Kurs, um ihn für das bevorstehende Rennen abzustimmen. In den wilden 60er Jahren war das möglich. Heute soll das aber eine Ausnahme sein, so lange bis der Fotograf seine dynamischen Aufnahmen abgeschlossen hat. Schließlich liegt der Geruch von Motorenöl und Gummi hier schon lange nicht mehr in der Luft. Nur bis 1965 wurden auf dem Solitude-Ring Rennen ausgetragen. Es begann aber bereits 1903 mit einem Bergrennen für Motorräder vom Stuttgarter Westen hinauf zum Schloss Solitude. Zu den Rennen pilgerten damals bis zu 450.000 Zuschauer an die Strecke.
Aber nun der Reihe nach. Eberhard Mahle hatte im Jahr 1965 ehrgeizige Pläne und wollte nach dem Titel der erstmals ausgeschriebenen Europa-Bergmeisterschaft für Gran-Turismo-Wagen greifen. »Bergrennen mit der gegenüber Rundstreckenrennen recht kurzen Anspannung aller geistigen und körperlichen Kräfte kamen meiner damaligen Konstitution entgegen. Schließlich hatte ich eine unfallbedingten Zwangspause wegzustecken«, erklärt der von seinen Freunden »Ebs« genannte Rennfahrer heute. »Also machte ich mich auf die Suche nach einem geeigneten GT-Wagen«, führt der damals 33-Jährige weiter aus. Da Ferrari und Ford ihm keinerlei Unterstützung in Aussicht stellten, fiel seine Wahl auf Porsche. Folglich kaufte Mahle bei Gerhard Mitter, der in Böblingen bei Stuttgart eine Tankstelle mit einer Werkstatt hatte, einen 911 in Signalrot und nahm im serienmäßigen Zustand am 15. Mai 1966 beim internationalen Bergrennen in Eberbach teil.
Sein Überraschungssieg gegen teilweise weit stärkere Fahrzeuge von Ford und Ferrari stimmten ihn zuversichtlich, dass er mit dem ausgewogenen 911 in der Europa-Bergmeisterschaft um den Gesamtsieg fahren könnte. Natürlich hoffte er insgeheim auf die Unterstützung vom Zuffenhausener Werk. Um aber keine Zeit zu verlieren, wurde der 911 sofort von Werksfahrer Gerhard Mitter und dessen Team präpariert. Der begnadete Rennfahrer war auch ein Tüftler, der mit dem Mitter-DKW eigene Rennwagen baute und selbst erfolgreich einsetzte. Auch er war als Werksfahrer für die Europa-Bergmeisterschaft 1966 vorgesehen, auf einem Porsche-Prototyp mit Achtzylinder-Triebwerk. Seinem Freund Ebs stellte er bis zum Auftaktrennen am Rossfeld im Juni bis zu 160 PS statt der serienmäßigen 130 PS in Aussicht. Dazu aber musste der Böblinger tief in die Trickkiste greifen. Das Triebwerk bekam durch einen flacheren Zylinderkopf deutlich höhere Kompression. Deshalb wurden die Kolben mit »Taschen« versehen, damit der Ventiltrieb ausreichend Platz fand. Die Solex-Vergaser mussten den moderneren Weber-Vergasern weichen, da gerade am Berg mit der dünneren Höhenluft Abstimmungen keine Kompromisse zuließen. Ein anderes Auspuffsystem mit langen »Tüten« rundete den optimierten Ansaug-Abgas-Trakt ab.
Ebs wusste genau: In der kurzen Fahrzeit eines Bergrennens musste alles passen, auch die Vorbereitung der Strecke. Während Mitter mit seinem Team schraubte, fuhr er deshalb mehrfach zum Rossfeld, um die Strecke des ersten Rennens zu studieren. Mit einem PS-mäßig unterlegenen Elfer kam es darauf an, das Gas so wenig wie möglich zu lupfen, was wiederum eine exzellente Streckenkenntnis voraussetzte. Auch war eine engere Getriebeabstufung vonnöten.
Mit dem internationalen Alpen-Bergpreis am Rossfeld, ausgetragen am 12. Juni 1966 auf der 5,8 Kilometer langen Rossfeld-Höhenringstraße am Obersalzberg, wurde die Europa-Bergmeisterschaft 1966 eröffnet. Diese Ouvertüre hätte für Porsche nicht erfreulicher ausgehen können: In der neuen Traum-Rekordzeit von 117,2 km/h siegte Gerhard Mitter auf dem Porsche-Zweiliter-Sportprototyp und verwies seinen schärfsten Rivalen, den damals amtierenden Bergmeister Ladovico Scarfiotti auf Ferrari Dino, eindeutig auf den zweiten Platz.
Bei den GT-Wagen konnte Eberhard Mahle auf Anhieb die Zweiliter-Klasse gewinnen und hinter zwei wesentlich stärker motorisierten Fahrzeugen den dritten Platz in der GT-Wertung belegen. Somit heimste er die ersten wertvollen Punkte für das Championat ein.
Mahle war mit dem Ergebnis zufrieden und erklärt: »Es war klar, dass die PS-Boliden am Rossfeld ihre Leistung ausspielen konnten, aufgrund der Streckenführung mit relativ langen Geraden und aufgrund des guten Straßenbelags. Aber ich war mir sicher, dass ich in den folgenden Rennen noch näher vorrücken werde, zumal mir auf den Ferrari gerade einmal sechs Sekunden fehlten. Darüber hinaus sah das Reglement vor, dass nur die fünf besten der insgesamt sieben Läufe gewertet werden.«
Und so kam es auch. Beim zweiten Lauf am Mont–Ventoux in Frankreich am 26. Juni 1966 siegte Mahle; auch beim dritten Lauf im italienischen Trento–Bondone am 10. Juli 1966 verwies er seine Konkurrenten auf die Plätze. Nach seinem erneuten Sieg am 24. Juli 1966 von Cesana nach Sestrière in Italien zeichnete sich die Sensation ab. Als Mahle schließlich am 31. Juli 1966 in Freiburg am Schauinsland erneut zum Sieger gekürt wurde, war er nicht mehr einzuholen. Beim sechsten Lauf »Sierre–Montana–Crans« in der Schweiz am 28. August 1966 unterstrich er mit einem erneuten Sieg den Verdienst der Europa-Bergmeisterschaft. Sein Ausfall beim siebten und letzten Lauf am Gaisberg am 4. September 1966 kann somit als ein Schönheitsfehler bezeichnet werden.
Noch vor dem letzten Lauf am Gaisberg verkaufte Mahle seinen Siegerwagen an den Stuttgarter Gastronom Willi Schapmann. Dieser wollte den Wagen gleich in der Woche nach dem Gaisbergrennen entgegennehmen. Somit musste der Heckschaden links schnellstmöglich repariert werden. Der damalige Rennleiter Huschke von Hanstein griff Mahle unter die Arme und ließ den 911 vom Gaisberg direkt in die Werksreparatur bringen. Roland Bemsel reparierte den Wagen schließlich innerhalb eines Tages.
Eberhard Mahle und sein 911 aus dem Jahr 1965 waren sofort wieder eine Einheit. In seinem Baumwoll-Rennfahreranzug von damals schwelgt der 85-Jährige in Erinnerungen.
Überhaupt bekam Mahle während der Saison zunehmend Schützenhilfe vom Werk. Huschke von Hanstein taktete den 911 in die Transportlogistik und vor-Ort-Betreuung der Werkswagen ein. Für den Mahle 911 standen inzwischen zwei Motoren zur Auswahl. Ferdinand Piëch soll sogar persönlich Getriebeabstimmungen bereitgestellt haben. Somit taucht der Mahle-911 auch in allen werksinternen Protokollen auf und wurde in die interne Strecken-Auswertungsanalyse integriert. Nach dem Gewinn der Meisterschaft schmückte der Mahle-911 Porsche-Plakate, mit denen der Sieg der Europa-Bergmeisterschaft für Gran-Turismo-Fahrzeuge verkündet wurde.
Eberhard Mahle hängte nach diesem Erfolg die Rennerei an den Nagel. Daran konnte auch Huschke von Hansteins Gesuch nach einer Fortführung nichts ändern. Der im Endstadium auf 185 PS getunte Mahle-911 sorgte aber Porsche-intern noch für Wirbel. In einem von Huschke von Hanstein an die Porsche-Führung verfassten Protokoll vom 7. September 1966 ist zu lesen, dass »unsere Kundschaft immer wieder voll Unverständnis zu uns mit der Frage kommt, wie es denn möglich sei, dass man bei uns nur einen Kit mit 12 PS Steigerung bekommen könnte, während, – was sich allmählich herumgesprochen hat, – Herr Mahle auf privater Basis 55 PS zusätzlich erreicht haben soll«. Das Protokoll ist überschrieben mit »Überlegungen betreffend eines Competition-911 für 67/911 R«. Aus diesem Kundendruck heraus entstand somit schließlich der 911 R.
Es dauerte mehr als 20 Jahre und einen furchtbaren Krieg lang, bis auch die Autorennen auf dem Solitude-Ring wieder begannen. 1949, im Jahr der Gründung der Bundesrepublik, war es so weit. Und in den wilden 60ern, als auf der ganzen Welt alles möglich schien, fuhr dann hier die Formel 1 über die Landstraßen. Das Start-und-Ziel-Häuschen ist bis heute das Symbol der Nachkriegsära.
Mahles Siegerwagen indes wurde von Willi Schapmann in den Folgejahren noch mächtig geschunden. Er fuhr allein im Jahr 1967 elf Veranstaltungen und schickte den 911 erst nach der Saison 1972 in den Ruhestand. Der Sportfahrer hatte den Elfer so im Griff, dass er niemals verunfallte und lediglich technische Reparaturen durchführen musste. Dann verkaufte Schapmann an einen Geschäftsmann.
Dieser bedeutende 911 geriet schließlich für fast drei Jahrzehnte in Vergessenheit und gammelte in einer Gitterbox in Stuttgarts Stadtmitte vor sich hin, weitgehend unbemerkt, da der inzwischen in den USA lebende Besitzer immer pünktlich seine Miete bezahlte. Erst im Jahr 2006 konnte der Eigentümer ausfindig gemacht werden, der den Wagen an einen hartnäckigen Sammler verkaufte. Dass es sich um den Mahle-Rennwagen handelte, kam erst danach durch die Kardex-Karte ans Tageslicht: Ausgeliefert am 30. Juli 1965 über Hahn Stuttgart an das Autohaus Mitter in Böblingen. Zweiter eingetragener Besitzer ist Eberhard Mahle, damals wohnhaft in Maichingen, und der dritte eingetragene Besitzer ist Willi Schapmann aus Stuttgart, der inzwischen leider verstorben ist. Eine unglaubliche Geschichte, wach geküsst in einer Traumbesetzung, nämlich dem Fahrzeug mit ehemaligem Fahrer an historischer Stätte.
TECHNISCHE DATEN
Porsche 911 (1965)