Arne Olerth
· 05.08.2022
Noch mehr Leistung, Leichtbau und ein klangvoller Name – der Porsche 911 Carrera 2.7 RS setzte 1972 ein Ausrufungszeichen. Zur Ikone aber reifte der Sportwagen durch den keck gen Himmel gereckten Spoiler auf der Motorhaube
Was der Käfer für Volkswagen und der Bulli für VW Nutzfahrzeuge ist der Elfer für Porsche – die Ikone der Marke, populär und emotional aufgeladen. Doch zeigt sich die Welt des 911 als ungemein facettenreich: Enthusiasten schwärmen für das Coupé, den Targa, das Cabriolet, den Speedster oder den Turbo, die GT-Sportmodelle – um nur einige zu nennen. Oder gleich für alle der acht Baureihen, von der jede mit eigenem Charme lockt: das Urmodell mit dem Reiz des Ursprünglichen, der 993 mit dem besten luftgekühlten Motor, der 997 mit klassischem Look und modernem Fahrfeeling – und so weiter. Ein Modell aber überstrahlt sie alle, ist wohl jedem Autofan bekannt: der Porsche 911 Carrera 2.7 RS. Klingelt es? Nein? Bei seinem Spitznamen „Entenbürzel“ aber mit Sicherheit. Erstmals zierte ein Heckspoiler den Elfer, den der Carrera RS keck gen Himmel reckte – dem Hinterteil einer gründelnden Ente nicht unähnlich. Eben jener automobile Meilenstein aus Zuffenhausen feiert aktuell seinen fünfzigsten Geburtstag, wurde der bis dato schnellste Porsche 911 doch am 5. Oktober 1972 auf dem Pariser Autosalon präsentiert.
Die Entwicklungsgeschichte des Carrera RS freilich zeigt sich weit weniger glamourös, als seine heutige Beliebtheit vermuten ließe: Ein knappes Jahrzehnt nach dem Serienanlauf des Porsche 911 mehrten sich Stimmen frustrierter Elfer-Eigner, welche die frisch erwachsene Konkurrenz vom Schlage eines BMW 02 oder eines Ford Capri nicht mit der gewünschten Souveränität zu deklassieren vermochten – gerade in schnellen Kurven. Dabei wurde weniger ein Leistungsdefizit beklagt – immerhin leistete der Elfer bereits bis zu 190 PS – als vielmehr sein wenig narrensicheres Fahrverhalten. Der damalige Leiter der Fahrwerkswerksentwicklung Hemuth Bott hatte dem Sportwagen in den Sechziger Jahren bereits ein wenig Manieren beigebracht – etwa durch eine Verlängerung des Radstands um 57 Millimeter oder eine stärkere Belastung der Vorderachse durch zwei je 11 Kilogramm wiegende Gusseisen hinter der Stoßstange. Eine Verlagerung der Batterie nach vorn in zwei Einheiten ersetzte diese Notlösung später.
Gusseiserne Gewichte unter der Stoßstange
Doch wurden mit diesen Maßnahmen eher die Auswirkungen, nicht aber die Ursache des Problems gelindert: die unvorteilhafte Aerodynamik des Elfers, dessen Profil dem eines Flugzeugflügels glich – und so für Auftrieb und ein diffiziles Fahrverhalten sorgte. Mit den Worten: „Ihr müsst euch etwas ausdenken, das Auto wird zu leicht!“ beauftragte Bott seinen jungen Ingenieur Tilman Brodbeck mit der Lösung des Problems. Und der dachte in neuen Bahnen. Unlängst hatte er sein privates Fiat 850 Coupé durch das Facelift-Modell ersetzt, das sich deutlich schneller, vor allem aber stabiler im Handling zeigte, was nicht den fünf Zusatz- Pferden zugesprochen werden konnte. Vielmehr erwies sich eine definierte Abrisskante am Heck nicht wie vermutet als Design-Gag, sondern als probates aerodynamisches Hilfsmittel.
Brodbeck und sein Team bauten daraufhin Spoiler-Modelle für die Elfer-Motorhaube aus Blech und Draht und verbrachten mehrere Tage im Windkanal des Forschungsinstituts für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren in Stuttgart. Mit Erfolg, konnten die Porsche-Ingenieure doch den Auftrieb im Verbund mit einem ein Jahr zuvor entwickelten Frontspoiler dramatisch reduzieren. Bott war begeistert und ordnete Fahrversuche auf der neuen Porsche-Teststrecke in Weissach an. Allen Befürchtungen zum Trotz war der verspoilerte Elfer sogar schneller als ein Vergleichsauto ohne diese Hilfsmittel. Der Heckspoiler wurde dann so lange verlängert, bis die Geschwindigkeit wieder abnahm. „Errechnet wurde damals noch nichts“, erklärt Brodbeck schmunzelnd. Am 5. August 1972 wurde die zugehörige Patent-Offenlegungsschrift Nr. 2238704 beim Deutschen Patentamt angemeldet.
Weniger begeistert aber zeigte sich das Kraftfahrtbundesamt, sorgte sich dieses doch um die Gesundheit etwaiger von hinten auffahrenden Radsportlern. Doch bei einem guten Abendessen – „so etwas ging damals noch“ – konnte ein Einlenken auf eine um 1,5 Zentimeter niedrigere Serienversion erwirkt werden. Nicht zuletzt dürfte der Verweis auf gerade einmal 500 geplante Einheiten milde gestimmt haben.
Der Vertrieb glaubte zwar nicht an einen großen Erfolg, brauchte aber jene Menge zur Homologation des straßenzugelassenen Autos für Rennsport-Veranstaltungen. Immerhin hatte es seit dem 356 Carrera 2 von 1964 keinen entsprechenden Sportwagen von Porsche mehr gegeben.
„Errechnet wurde damals noch nichts!“
Neben dem stilprägenden Aerodynamik-Paket setzte das Entwicklerteam weitere Maßnahmen um – etwa breitere Räder an der Hinterachse. Die Mischbereifung (185/70-VR15 & 215/60-VR15) kam erstmals bei einem Serien-Porsche zum Einsatz, trug der hohen Hinterachslast Rechnung. Gleichzeitig verbreiterten die Ingenieure die Karosserie im Bereich der hinteren Radhäuser um 42 Milli- meter. Das Fahrwerk wurde gestrafft, erleichtert und mit stärkeren Stabis ausstaffiert. Vorne kamen Alu-Träger zum Einsatz, hinten robustere Hinterachslenker und eine Querrohrverstärkung.
„Mit dem Reisewagen auf die Rennstrecke“ – titelte Porsche über den neuen Elfer, da durfte natürlich ein entsprechend potentes Triebwerk nicht fehlen: Dank einer Vergrößerung von 2,4- auf 2,7-Liter-Hubraum und dem Einsatz einer mechanischen Sechsstempel-Einspritzpumpe leistete der unter anderem von Motorenpapst Hans Mezger neu entwickelt Sechszylinder satte 210 PS bei 6.300 Touren und entwickelte 255 Nm bei 5.100 Umdrehungen.
Genauso wichtig: ein griffiger Name. Für die Sportversionen des Vorgängers Porsche 356 mit den legendären Vierzylinder-Königswellenmotoren hatte sich der Namenszusatz „Carrera“ etabliert, erinnerte an den Erfolg der Stuttgarter beim Carrera Panamericana- Langstreckenrennen. Fast ein Jahrzehnt blieb der Zusatz ungenutzt – mit dem neuen Top-Elfer hatte er endlich einen würdigen Einsatz gefunden, mit dem RS-Zusatz als Hinweis auf den geplanten Einsatz der 500 Fahrzeuge im Rennsport.
Es kam anders als vom Marketing befürchtet: Bereits einen Monat nach der Präsentation war das Kontingent ausverkauft. Bis zum Juli 1973 konnte Porsche 1.580 Fahrzeuge produzieren. Neben 55 kompromisslos als Rennautos aufgebauten Carrera RS wurden 200 Einheiten als Sport-Version mit gerade einmal 960 Kilogramm Leergewicht gebaut – 115 Kilogramm weniger, als vom Straßen-Elfer gewohnt. Der überwiegende Teil der Käufer aber sah im neuen Elfer weniger den kompromisslosen Motorsport-Racer, als vielmehr den schnellen Sportwagen für die Straße. 1.200 Käufer entschieden sich daher für die ebenfalls angebotene „Touring“-Version mit voller Alltagskompetenz. Hier gibt es keine Komfort-kasteiende Diät, dafür eine Rückbank, bequeme Sitze anstelle leichter Schalen, Dämmmatten und all jene Features, welche die 911-Geschwister ohne „Carrera“-Namenszusatz bieten.
Und just dieser Touring steht heute, 50 Jahre nach seiner Vorstellung für eine Probefahrt bereit. Hoppla: Neben modernen Autos wirkt der Klassiker ungemein zierlich, ist er doch zehn Zentimeter schmaler als ein Polo und nur im gleichen Maße länger. Ein aktueller Elfer 992 oder auch ein Cayman 718 wirken geradezu riesig im Vergleich. Wohlstandsspeck gibt es beim Carrera RS nicht, er ist kompromisslos auf einen Zweck reduziert: schnelles Fahren. Schmucke Fuchsfelgen – kultige Klassiker – die Kontur-verleihenden Spoiler und nicht zuletzt die effektvolle Farbe Hellgelb unterstreichen den konzentrierten Auftritt des Sportlers. Wilde Effekthascherei überlässt der Elfer anderen, alles wirkt technokratisch reduziert. Kein Wunder, dass der Elfer heute Kultstatus genießt. Innen empfängt das klassische Fünfuhren-Cockpit mit mittigem Drehzahlmesser. Der dünne Kranz des Lenkrads erinnert noch am ehesten an das Alter des Autos, der für heutige Verhältnisse etwas groß geratene Durchmesser des Volants wird beim Rangieren dankbar registriert. Servolenkung? Gibt es genauso wenig wie einen rechten Außenspiegel. Keine Piepser oder anderweitig vom reinen Fahren ablenkende Assistenten können hier und jetzt das Vergnügen trüben.
Schlüsseldreh links, und der luftgekühlte Boxer erwacht mit seinem unvergleichlichen Fauchen zum Leben. Der Leerlauf ist stabil, auch die durchaus erträglichen Bedienkräfte des linken Pedals künden von einem hohen Maß an Alltagstauglichkeit. So wechseln wir innerorts flott in die vierte Fahrstufe. Ortsausgang, Feuer frei? Eher nicht – bei niedrigen Touren und Vollgas zieht der Boxer zwar willig, aber nicht eben feurig hoch. TDI-ähnlichen Druck aus dem Keller gibt es hier nicht, der 2.7 will gedreht werden. Also schalten wir in den Zweiten zurück: Halleluja, das ist es! Bis 4.000 Touren geht es sehr flott, darüber stürmisch voran. Vier, fünf, sechs – die Nadel des Drehzahlmessers fliegt über die Skala, bei sechsfünf geht es in die dritte Fahrstufe. Jetzt heißt es: Runter vom Gas, schon ist das Landstraßenlimit erreicht. Der Boxer untermalt die Hatz mit einem Soundtrack der Extraklasse, faucht, trompetet, sägt mit Inbrunst, lässt
jedes Nackenhärchen stramm stehen. Unter Last entwickelt der Flat6 beim Überstreichen der Drehzahl-Skala ein prima Crescendo, wird aber niemals störend oder aufdringlich.
Und dann diese Lenkung! Heutige Elfer markieren das Maß der Dinge, doch selbst der 50 Jahre alte Richtungsgeber serviert ein derart hohes Maß an Präzision und Rückmeldung, dass manch moderner Pkw beschämt die Assistenten um Hilfe anfleht. Und das trotz wulstiger Vorderreifen mit 70er Querschnitt. Auf den kurvigen Höhenstraßen des Nordschwarzwalds stellt sich bald ein Gefühl der Einheit von Mensch und Maschine ein: Vor der Kehre anbremsen, runterschalten, einlenken, aufs Pedal und satt herausbeschleunigen – der Carrera RS und sein Pilot harmonieren, sind ganz im Flow und könnten auf diese Weise einfach weiterfahren, bis der Tank leer ist.
5,8 Sekunden auf 100 km/h
Mit 6,3 Sekunden im Standardsprint ist der Touring heute immer noch ein sehr flottes Auto, liegt in etwa auf dem Niveau eines aktuellen VW Golf GTI. Doch wie muss dieses Auto in einer Ära gewirkt haben, als der VW Käfer mit bestenfalls 21 Sekunden für den 0-100-Sprint das Massen-Mobil war?
Noch mehr Sportsgeist zeigt freilich die 115 Kilogramm leichtere Sport- Version, die nun weiß lackiert zum Tanz bittet. 5,8 Sekunden notiert das Datenblatt, entsprechend befreiter wirkt der weiße Elfer im Vergleich zum gerade eben gefahrenen Bruder. Durch die fehlende Dämmung ist das Fahrerlebnis noch intensiver, eindringlicher. Doch fordert die Sitzschale mehr Nehmerqualitäten als der Touring, ein Blechdeckel anstelle der rechts platzierten Uhr kündet von ausgeprägter Gewichtsfuchserei. Die Tür kommt ohne Armlehne und Hebel zum Öffnen, eine Lederschlaufe muss reichen.
Einfahrt in einen Tunnel auf einer Gefällstrecke, der weiße Flitzer wird durch Gaslupfen im zulässigen Tempo- Bereich gehalten. Auf einmal erschüttert eine markerschütternder Knall den Tunnel. Ein erschrockener Blick in den Rückspiegel widerlegt die Vermutung einer unangekündigten Sprengung. Vielmehr förderte der Boxer unverbrannten Kraftstoff in die Abgasanlage, der sich dort effektvoll entzündete – ein Phänomen, das auf unsere Tour noch häufiger auftritt.
Wohlbehütet stellen wir den Klassiker dann wieder vor den heiligen Hallen der Museumssammlung von Porsche ab. Der aufkeimende Wunsch nach dem Besitz eines solchen Elfers erfährt im folgenden Gespräch über den Marktwert der Pretiosen einen herben Dämpfer: Der gelbe „Touring“ liegt jenseits der 600.000 Euro, der weiße „Sport“ gar im siebenstelligen Bereich.
Somit verhält es sich im Klassiker- Olymp genauso wie zu Hochzeiten der Kult-Legenden: Der Käfer ist für Normalverdiener erreichbar, den Bulli muss man sich leisten wollen. Und der RS-Elfer? Nun ja: Ein besonderer Geschmack war schon immer etwas teurer. Die heutige Ausfahrt freilich war ein Geschenk, deren Erlebnisse noch lange in der Erinnerung verhaftet bleiben werden. Danke dafür, Porsche!