Florian Neher
· 01.08.2023
Ein Elektroroller von einem Autohersteller – schneidet sich Seat damit nicht ins eigene Fleisch? Denn bekanntermaßen sind Motorroller clevere Pkw-Alternativen für die Stadt. Seit Jahrzehnten prägen sie das Straßenbild von Metropolen wie Paris oder Rom. Oder eben auch im trendigen Barcelona, wo Seat MÓ als die auf urbane Mobilität spezialisierte Abteilung des spanischen Herstellers seit September 2020 mit E-Rollern als Motorsharing-Anbieter gut im Geschäft ist.
Die grundsätzlichen Vorteile eines City-Rollers liegen auf der Hand: Er ist im Vergleich zu einem Auto günstiger in Anschaffung und Unterhalt, sein Parkraumbedarf ist minimal und im Stau schlängelt man sich durch – wenngleich das in Deutschland eigentlich verboten ist. Klar, schlechtes Wetter ist der natürliche Feind des Zweiradfahrers, doch mit passender Kleidung geht‘s schon. Wirklich unschön wird es erst bei Minusgraden sowie Eis und Schnee.
In der Redaktions-Tiefgarage steht nun also der Seat MÓ 125 Performance mit immerhin 12 kW (16 PS) Spitzenleistung – das entspricht etwa der Leistungsausbeute eines Leichtkraftrads mit 125-Kubik-Ottomotor, woraus sich auch die Bezeichnung des Seat-Rollers ableitet. Der MÓ kam per Transporter und wurde ohne Einweisung übergeben – aber das dürfte für jemanden, der den Motorradführerschein seit 1990 besitzt und auch schon mit Elektro-Zweirädern einige Erfahrungen gesammelt hat, ja kein Problem sein…
Doch. Der „Zündschlüssel“ ist scharfgestellt, das Cockpitdisplay zum Leben erwacht, der Fahrer sitzt erwartungsvoll im Sattel, dreht den Stromgriff und es passiert: nichts ...
Das Testwesen steigt also wieder ab, um die Sitzbank zu öffnen und die Bedienungsanleitung im großen 45-Liter-Helmfach darunter zu studieren. Doch der Sattel lässt sich nicht aufklappen, kein Schloss, kein Hebel, kein sichtbarer Entriegelungsmechanismus. So kommen wir nicht weiter. Also wieder hoch ins Büro und sich auf der Hersteller-Website schlau machen. Tatsächlich: Einfach bei ausgeklapptem Seitenständer (der MÓ besitzt auch einen Hauptständer) beide Bremshebel ziehen, schon entriegelt sich die Sitzbank elektrisch. Fahren? Nun, dazu muss nach dem Einschalten der Zündung der linke Bremshebel gezogen sowie rechts der Fahrmodusschalter gedrückt werden, dann ist der MÓ fahrbereit.
Einen Rückwärtsgang gibt´s übrigens auch, denn der elektrische Roller wiegt immerhin 155 kg – 41 kg davon entfallen auf den Akku mit 4,5 kWh Netto-Kapazität. Zum Rückwärts-Rangieren muss ein zuvor unentdeckter Knopf vorn am linken Lenkermodul gedrückt werden, sodann bestätigt das Display den Rückfahr-Modus und per Dreh am Gasgriff kriecht der MÓ behutsam rückwärts. Jetzt aber vorwärts, und zwar schnell! Zum Rantasten an das bekanntlich sofort anliegende Maximaldrehmoment des E-Motors starten wir im Eco-Modus, der Leistung und Höchstgeschwindigkeit zugunsten der Reichweite limitiert. Mit maximal rund 65 km/h sollen bis zu 133 km drin sein, mehr als genug für die alltäglichen Fahrten im urbanen Raum. Schon in diesem zahmsten der drei Fahrmodi (Eco, City, Sport) zieht der E-Roller sehr stramm von der Stelle und beschleunigt flink auf Stadttempo. Im Sportmodus sollen 50 km/h nach nur 2,9 Sekunden anliegen, womit man tatsächlich die allermeisten Ampelsprints für sich entscheidet, aber eben auch die Reichweite deutlich verkürzt. 240 Nm Maximaldrehmoment gibt Seat an, allerdings am Rad gemessen – das reine Motordrehmoment liegt freilich deutlich niedriger. Die Höchstgeschwindigkeit ist mit 99 km/h eingetragen, aktiviert man allerdings per Taste links am Lenker den E-Boost, werden für bis zu 30 Sekunden die vollen 12 kW/16 PS losgelassen, womit 105 km/h Spitze drin sind, etwa zum flotten Überholen eines Lkw. Anschließend wird zugunsten der Reichweite wieder auf die in den Papieren vermerkte Dauerleistung von 8 kW/11 PS und 99 km/h runtergeregelt. Nach zwei Minuten kann
dann der Boost erneut aktiviert werden. Doch selbst ohne E-Boost gefällt die Leichtigkeit, mit welcher der MÓ auch bei höheren Geschwindigkeiten noch beschleunigt, ganz ohne Krawall, Vibrationen und Abgas – kein Vergleich zu den lärmenden, stinkenden Zweitakt-Rollern, wie sie immer noch zuhauf unterwegs sind. Das verhältnismäßig hohe Gewicht spürt man nur, wenn man ihn auf den Hauptständer wuchtet – wobei selbst das dank Hebelwirkung leicht vom Fuß geht.
Der Seat MÓ 125 Performance ist die ebenso zeitgemäße wie sportlich-spaßige Auto-Alternative – nicht nur für die Stadt
Auch beim Kurvenräubern mit dem MÓ kommt Spaß auf: Die modernen Pirelli-Reifen bauen auch auf feuchtem Asphalt hohen Grip auf, das Fahrwerk-Setup ist im Solo-Betrieb angenehm straff und das Handling eher vertrauenerweckend-stabil als nervös-agil – ein Verdienst des durch den Akku sehr tief liegenden Schwerpunkts. Womit wir bei der bemerkenswerten Konstruktion des MÓ sind: Er verfügt nicht über einen Mittelmotor, wie er sich etwa bei Pedelecs oder E-Motorrädern durchgesetzt hat, sondern wird von einem Radnabenmotor im Hinterrad an einer Einarmschwinge angetrieben. Das erhöht zwar prinzipiell die ungefederten Massen, spart aber Platz und die gesamte Kraftübertragung per Kette oder Zahnriemen. So bleibt in der Fahrzeugmitte Raum für eine wirklich große Batterie, die seitlich herausgezogen und wie ein Trolley mitgenommen werden kann. Natürlich hilft das wenig, wenn man im dritten Stock ohne Aufzug wohnt – doch was hätte man von einem kleinen, leichten Akku, der sich problemlos mit in die Wohnung nehmen lässt, aber eben nur gut ist für, sagen wir mal, 30-40 km Reichweite? Alternativ kann die Batterie wie bei anderen E-Rollern im eingebauten Zustand per Buchse an der rechten Fahrzeugseite geladen werden. Eine Vollladung per 230-Volt-Haushaltsstrom dauert übrigens 6 bis 8 Stunden – also über Nacht. Währenddessen leuchtet geheimnisvoll der LED-Ring am Akku ... Mit zwei Personen besetzt, kommt der MÓ schnell auf über 300 kg Gesamtgewicht, was die großen Scheibenbremsen von Galfer aber souverän parieren. Auch das Fahrwerk steckt die Doppelbelastung ohne Murren weg – im Falle unseres Performance-Topmodells mit hochwertigem, voll einstellbarem Öhlins- Federbein hinten. Ein sinnvolles Detail für flottes Fahren ist ferner die mit Alcantara bezogene und daher rutschfeste Sitzbank.
Und selbstverständlich lässt sich der MÓ auch mit dem Smartphone verbinden: Per App sind unter anderem der Standort (Parkposition und Live-Tracking) sowie der Batteriestatus in Echtzeit verfügbar.
Um den MÓ 125 Performance zu fahren, reicht der normale Autoführerschein mit der B196-Erweiterung, der Motorradführerschein A1 oder der alte 3er-Schein, sofern er vor dem 31. März 1980 erteilt wurde. Jetzt müssen wir natürlich noch über den Preis reden: 8.900 Euro für einen 16-PS-Roller sind ambitioniert, doch wer auf den E-Boost, die Galfer-Bremsen und das Öhlins-Federbein verzichten kann, bekommt schon für 7.200 Euro den „normalen“ MÓ 125, der mit seinen 9 kW/12 PS (Dauerleistung: 7 kW/10 PS) immerhin noch 95 km/h schnell ist. Und dann hat Seat noch den 45 km/h schnellen MÓ 50 im Köcher, der mit der Fahrerlaubnis AM schon ab 15 Jahren bewegt werden darf. Der ist ab 5.950 Euro erhältlich, benötigt nur ein Versicherungskennzeichen und verbraucht aufgrund seiner limitierten Höchstgeschwindigkeit laut Hersteller nur 5,8 kWh/100 km, was eine Reichweite von „bis zu 172 km“ ermöglichen soll. Erstaunt sind wir über die doch etwas pessimistischen Verbrauchsangaben: Für den MÓ 125 gibt Seat einen Schnittverbrauch von 7 kWh/100 km an, was bei 4,5 kWh Akkukapazität nur etwa 65 km Reichweite ergäbe. Das ist mit Dauervollgas natürlich möglich, im urbanen Betrieb mit viel Rekuperieren kamen wir aber stets rund 80 km weit, was einem Verbrauch von 5,5 kWh/100 km entspricht. Die Reichweiten-Werksangabe „bis zu 133 km“ hingegen halten wir für eher optimistisch.
Test kompakt
Der Seat MÓ 125 ist ein konstruktiv bemerkenswerter Elektroroller mit starkem Radnabenmotor, großem Akku samt ordentlicher Reichweite, voluminösem Gepäckfach und weiteren pfiffigen Lösungen wie etwa dem Rückw.rtsgang. Sein vergleichsweise hohes Gewicht spürt man beim Fahren kaum, der Preis des Performance-Topmodells ist allerdings happig.
Technische Daten
Motor
Karosserie
Fahrwerk
Bereifung:
Kraftübertragung
Konnektivität