Amelie Dinter
· 07.03.2025
Man kennt ihn aus Werbespots: den emotionslosen Dummy, unseren Stellvertreter, wenn es beim Crashtest hart auf hart kommt. Und beim Euro NCAP Crashtest hat diese Puppe mittlerweile immer bessere Karten, (fast) wieder heil rauszukommen. NCAP – das steht für das European New Car Assessment Programme, eine unabhängige Verbraucherschutzorganisation und ein Zusammenschluss von europäischen Verkehrsministerien, Versicherungen und Automobilclubs.
Seit 25 Jahren führt die Organisation mit Sitz in Brüssel Crashtests durch und testet so die aktive und passive Sicherheit von neuen Fahrzeugen. Unter kontrollierten Bedingungen werden verschiedenste Unfallsituationen simuliert – sowohl Fahrzeug-Fahrzeug-Szenarien als auch Pfahlaufpralle sowie die Effizienz der Rettung aus dem Fahrzeug nach einem Unfall. Mit diesen Tests werden die Leistungen der Sicherheitssysteme und der Schutz der Insassen analysiert – immer mithilfe des Dummys.
Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Crashtests vorgenommen. Der erste Crashtest-Dummy war 1949 „Sierra Sam“. Im Einsatz für die US-Luftwaffe sollte er die Schleudersitze und Gurte der rund 1.000 km/h schnellen Raketenschlitten testen. Dieser Dummy war mit 1,85 Metern größer und schwerer als 95 Prozent aller männlichen Erwachsenen. Zum Vergleich: Bei den Crashtests von Euro NCAP werden Dummys mit einer Größe von maximal 1,75 Metern verwendet.
Den ersten Auto-Crashtest in Deutschland führte 1959 Mercedes-Benz durch. Gestartet mit wenigen Unfallsimulationen entwickelte sich das Verfahren in den 1960er-Jahren langsam weiter. Mit der Gründung des Euro NCAP für das britische Verkehrsministerium im Jahr 1996 wurden Crashtests schließlich standardisiert absolviert, um die Sicherheit von Fahrzeugen seriös und stichhaltig zu überprüfen.
Seit 2009 umfassen die Tests vier Bereiche: den Insassenschutz, die Kindersicherheit, den Schutz ungeschützter Verkehrsteilnehmer sowie das Vorhandensein und die Wirksamkeit der Sicherheitssysteme. Der Insassenschutz wird anhand von Frontal-,Seiten-, Pfahl- und Heckaufprallen getestet. Bei einem Frontalcrash prallt das Fahrzeug frontal auf deformierbare und nicht deformierbare Barrieren. Bei einem Seitencrash kollidiert das Fahrzeug seitlich mit einem anderen Fahrzeug, bei einem Pfahlcrash prallt es seitlich auf der Höhe des Fahrers auf eine Stahlsäule. Der Heckcrash wiederum untersucht die Sicherheit von Kopfstützen, Rückhaltesystemen und Airbags.
Bei der Prüfung der Sicherheit für Kinder wird die Fixierung der Kleinen bei Unfallsituationen bewertet. Dabei kommen seit 2016 Kinder-Dummys zum Einsatz, die ein sechsjähriges und ein zehnjähriges Kind simulieren. Sie werden in die vom Fahrzeughersteller angebotenen und empfohlenen Kindersitze gesetzt und ihre Sicherheit getestet. Auch die Befestigung mit dem Isofix-System, einem standardisierten System zur sicheren Montage von Kindersitzen, wird untersucht. Die Sicherheit ungeschützter Verkehrsteilnehmer, also die Auswirkungen eines Aufpralls mit Fußgängern und Radfahrern, wird ebenso mit speziellen Dummys überprüft. Darüber hinaus wird in diesen Szenarien die Funktion eines Notbremssystems gecheckt.
In den vier Kategorien Insassenschutz, Kindersicherheit, Fußgängerschutz/ungeschützte Verkehrsteilnehmer und Aktive Sicherheit kann ein Fahrzeug jeweils 100 Prozent erreichen. Daraus wird am Ende eine Bewertung mit Sternen errechnet. Fünf Sterne stehen dabei für eine hervorragende Gesamtleistung beim Unfallschutz, ein Stern für nur marginalen Unfallschutz. 2024 wurden insgesamt 41 Modelle getestet, von denen jeweils mehrere Exemplare pro Modell für die Sicherheit geschrottet wurden. Die demolierten Fahrzeuge werden im Anschluss für weitere Forschungszwecke oder in der Ausbildung von Rettungskräften weiterverwendet.
Die Unfalltests von Euro NCAP sind für die Fahrzeughersteller rechtlich nicht verpflichtend. Gleichwohl haben Hersteller die NCAP-Bewertungen als Wettbewerbsvorteil erkannt und setzen verstärkt auf Sicherheitsinnovationen, um die hohen Standards zu erfüllen. Die Ergebnisse sind jedoch immer nur innerhalb eines Jahres vergleichbar, da Euro NCAP seine Kriterien regelmäßig anpasst, um mit dem technologischen Fortschritt mitzuhalten. Mit der zunehmenden Verbreitung von Elektrofahrzeugen hat die Organisation außerdem begonnen, deren spezifische Sicherheitsaspekte zu bewerten. Dazu gehören die Risiken von Batteriebränden und Überhitzung sowie die Bereitstellung von Informationen für Erst- und Zweithelfer bei einem Unfall.
Über die Jahre hinweg wurden die Anforderungen an die Fahrzeuge immer höher. 2009 kamen Tests hinzu, die unter anderem die Risiken von Kopf- und Beckenverletzungen bei Fußgängern berücksichtigten. Ab 2018 wurden Fahrzeuge auf ihre Assistenzsysteme wie automatische Notbremsfunktionen und Spurhalteassistenten geprüft.
Ein weiterer Meilenstein war die Einführung des Crashtest-Dummys „Thor“ im Jahr 2020. So misst Thor zum Beispiel bei einem Frontalaufprall die Belastung, die durch das Rückhaltesystem auf eine Person einwirkt. Die Daten werden verwendet, um das Verletzungsrisiko genauer zu berechnen. Die Anthropometrie, also die Größe und Struktur, basiert jedoch auf der eines durchschnittlichen erwachsenen Mannes. Für groß gewachsene Männer oder auch besonders kleine oder schwere Personen gibt es indes keine Daten.
Die Hauptkritik an der Verwendung überwiegend männlicher Dummys ist allerdings, dass sie die unterschiedlichen Verletzungsrisiken von Frauen nicht berücksichtigen. Aus Studien geht hervor, dass Frauen bei Unfällen ein höheres Risiko für schwere Schäden haben – und zwar aufgrund der fehlenden Optimierung von Gurten und Airbags für weibliche Insassen. Dabei gibt es bereits einen weiblichen Dummy. Bekannt unter dem Namen „Eva“, misst dieser 1,62 Meter, wiegt 62 Kilogramm und soll somit einer durchschnittlichen weiblichen Anatomie entsprechen. Mercedes-Benz verwendet weibliche Dummys bereits seit 20 Jahren in seinen Crashtests.
Ein weiterer Kritikpunkt an den Euro NCAP Crashtests ist, dass trotz der sich stets erweiternden Szenarien nicht alle realen Unfallsituationen nachgestellt werden können. Bestimmte Schwächen eines Fahrzeugs bleiben möglicherweise unentdeckt. Zudem wird diskutiert, inwiefern sich Fahrzeughersteller an den Tests orientieren, sodass diese in den spezifischen Szenarien zwar gut abschneiden, das Fahrzeug an anderen Stellen jedoch nicht verbessert wird.
Seit 2023 gibt es für das Euro NCAP einige Verschärfungen, die vermehrt Assistenzsysteme unter die Lupe nehmen. Die Erweiterungen zielen darauf ab, den Schutz aller Verkehrsteilnehmer zu verbessern. Radfahrer oder Personen auf E-Scootern sind zunehmend Teil des Straßenverkehrs und als schwächere Teilnehmer einer besonderen Gefahr ausgesetzt. Ein Kamerasystem soll sich im Querverkehr nähernde Wagen erfassen können. Zudem muss der Notbremsassistent nicht nur andere Fahrzeuge, sondern ebenso Fußgänger und Radfahrer erkennen und entsprechend reagieren – auch wenn sie sich in die gleiche Richtung bewegen, in die das Auto abbiegt.
Die Anforderungen an die Sensorik und Software der Assistenzsysteme wurden ebenfalls entsprechend erhöht, um präzisere und schnellere Reaktionen zu gewährleisten. Intelligente Assistenzsysteme, die die Geschwindigkeit anpassen, müssen Ampeln, Kreisverkehre, Kurven sowie Stoppschilder zuverlässig erkennen können. Der Fahrende muss dann informiert oder die Geschwindigkeit angepasst werden. Auch die Einbindung von Verkehrsmeldungen und die Aktualität von digitalem Kartenmaterial werden getestet – etwa die Übermittlung von Baustellen in der Region. Trotz der Weiterentwicklung werden einige Faktoren bisher immer noch ausgelassen: etwa Mehrfachkollisionen, bei denen ein Fahrzeug nach einem Aufprall weitere Verkehrsteilnehmer in den Unfall verwickelt, oder Kollisionen mit Bussen oder E-Scootern.
Wie die Autos entwickeln sich also auch die Tests weiter. Ab 2026 sollen daher schrittweise neue Prüfungen aufgenommen werden, darunter die Bedienbarkeit von Touchscreens. Schwerpunkte der sogenannten Vision 2030 sind sicheres Fahren, Unfallvermeidung und die Sicherheit bei und nach einem Unfall. Einen besonderen Fokus legt Euro NCAP außerdem auf assistierte und automatisierte Fahrersysteme, die Überwachung von Fahrermüdigkeit und Ablenkung sowie auf Kommunikationstechnologien wie V2V (Vehicle-to-Vehicle), V2L (Vehicle-to-Load) und V2X (Vehicle-to-Everything). Die Verbesserungen sind Teil der Vision Zero: Verkehrstote und Schwerverletzte im Straßenverkehr sollen irgendwann der Vergangenheit angehören.