Florian Neher
· 04.03.2023
Bewährter Diesel gegen modernen Stromer – wer hat im Alltag die Nase vorn? Oder sollten diese höchst unterschiedlichen Konzepte vielleicht eher noch eine Weile parallel fahren?
Was viele nicht wissen: Auch das Elektroauto lernte bereits in den 1880er-Jahren laufen und ist, auf ein paar Jahre hin oder her, genauso alt wie jenes mit Verbrennungsmotor. So waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf US-amerikanischen Pisten fast doppelt so viele Elektroautos wie Verbrenner unterwegs. Mit der flächendeckenden Verfügbarkeit von billigem Benzin wandelte sich das Straßenbild allerdings rapide, denn schon damals war die Achillesferse der Elektrokutsche ihre geringe Reichweite pro Batterieladung. Physikalisch ist es nun mal so, dass ein 50-Liter-Tank Benzin etwa 425 Kilowattstunden (kWh) Energie enthält, die gleiche Menge Diesel sogar rund 490 kWh. Dagegen mutet die Akkukapazität des VW I D.4 von 77 kWh netto sehr über- schaubar an, zudem wiegt der Akkupack rund 500 Kilogramm, was das Fahrzeuggewicht auf stattliche 2,2 Tonnen treibt und damit wiederum die Effizienz mindert. Auf das Gewicht bezogen, ist der Energieinhalt eines Kraftstofftanks also immer noch mindestens 50-mal so groß wie der eines Lithium-Ionen-Akkus.
E-Antrieb mit viel besserem Wirkungsgrad
Doch das Elektroauto kann kontern, zumindest zum Teil. Denn der Wirkungsgrad eines Elektromotors liegt bei etwa 85 Prozent, wohingegen ein Ottomotor es nur auf 35 und ein Selbstzünder auf gut 40 Prozent bringt. In anderen Worten: Trotz widriger Rahmenbedingungen erzielen die effizienten E-Autos mittlerweile dennoch brauchbare Reichweiten.
Mit den knapp 570 kWh Energieinhalt seines 58-Liter-Tanks kommt der Tiguan TDI bei unserem Testverbrauch von 6,2 Litern (60,8 kWh) beachtliche 935 Kilometer weit. Der 77-kWh-Akku des ID.4 bringt diesen bei einem Testverbrauch von nur 20,9 kWh aber immerhin 368 Kilometer weit. Der stets für seine Sparsamkeit gepriesene Diesel verbraucht demnach fast dreimal so viel Energie wie der Stromer, und das bei knapp 500 Kilogramm geringerem Fahrzeuggewicht. In der Gesamteffizienz ist ein E-Auto schlicht unschlagbar – kann der ID.4 also dem Tiguan TDI, einem der beliebtesten Autos der Deutschen, gefährlich werden?
Konzeptionell handelt es sich bei beiden um Kompakt-SUVs, was sich beim Einsteigen in den I D.4 sogleich positiv bemerkbar macht: Bequemer Zustieg über weit öffnende Türen, leicht erhöhte Sitzposition, Platz in allen Dimensionen. Zumindest vorn, im Fond wird die Kopffreiheit für Menschen über 1,85 m knapp – Tribut an die aerodynamische Form mit abfallender Dachlinie, die für einen guten cW-Wert von nur 0,28 sorgt (Tiguan: 0,32). Im Tiguan dagegen kommen hinten selbst Zwei-Meter-Menschen nicht mit dem Dachhimmel in Kontakt.
Quadratisch, praktisch, gut: Tiguan in Bestform
Der Kofferraum des I D.4 fällt mit 543 bis 1.575 Litern Ladekapazität großzügig aus, wenngleich auch hier der Altmeister Tiguan nochmal zeigt, wo der Hammer hängt: Obwohl er ein paar Zentimeter kürzer und schmaler, dafür aber höher ist, offeriert er im Heck satte 615 bis 1.655 Liter und ist überdies wesentlich variabler: Während sich die Variabilität beim Stromer auf die im Verhältnis 60:40 umlegbare Rückbanklehne samt Durchlademöglichkeit beschränkt, so lässt sich die Fondlehne im Tiguan dreigeteilt klappen und in der Neigung verstellen. Zudem kann die ganze Rückbank längs verschoben und – mit optionalem Cargo-Pack – der Kofferraumboden in zwei Höhen arretiert werden. Im Tiguan-Fond stört nur der Mitteltunnel – typisch Verbrenner, ein E-Auto kennt so etwas gar nicht.
Der Sitzkomfort vorn ist erstklassig: Im Tiguan auf straffen, aber sehr bequemen elektrischen Options-Ledersitzen mit sogar horizontal einstellbaren Kopfstützen, im ID.4 auf sportlich aussehenden, ebenfalls sehr bequemen und optionalen „ErgoActive“-Sesseln mit integrierten, etwas schmalen Kopfstützen.
Die Übersichtlichkeit ist bei beiden insgesamt gut, nach schräg hinten allerdings durch breite D-Säulen beschränkt – beim ID.4 noch etwas stärker, auch ist dessen Heckscheibe kleiner. Durch die kantigere Form lassen sich die Karosserieumrisse des Tiguan besser abschätzen als die des ID.4, dessen rundere Enden sich dem Auge entziehen. Beiden schadet neben der serienmäßigen Ultraschall-Einparkhilfe eine Rückfahrkamera nicht. Beim Tiguan gibt es außer der einfachen „Rear View“-Kamera auch ein System mit drei weiteren Kameras („Area View“), das einen virtuellen Rundumblick zeigt.
In Sachen Verarbeitungsqualität lassen sich die ungleichen Brüder nicht lumpen, bei der Materialanmutung rangiert der Tiguan jedoch eine Klasse über dem ID.4, der viel harten Kunststoff zur Schau stellt. Die fast ausschließliche Bedienung des ID.4 über Touchflächen ist komplex und hat ihre Tücken. Ganz zu schweigen von der unbeleuchteten Sensorleiste („Slider“) für die Temperatur- und Lautstärkeeinstellung unterhalb des Zentralmonitors und der Fensterheberbedienung über nur zwei Tasten sowie eine zögerlich ansprechende Touchfläche zum Umschalten zwischen vorn und hinten. Vieles davon könnte der Tiguan besser – wenn es sich um ein Basismodell handelte, das noch umfassend beknopft ist. In der hier getesteten Elegance-Ausstattung mit dem Top-Infotainmentsystem „Discover Pro Streaming & Internet“ wird ebenfalls viel getoucht und gewischt, auch das Klimabedienteil verzichtet auf die kaum zu verbessernden Drehregler. Immerhin gibt’s am Lenkrad und rund um den Getriebewählhebel noch echte Tasten zum Spielen. Und vier Fensterheberschalter.
Genug genörgelt, jetzt geht’s auf die Piste. Mit seinen nominell 310 Nm und 204 PS surrt der I D.4 engagiert los, dank Heckantrieb mit trittfester Traktion. Bei den Fahrleistungsmessungen mit proppevollem Akku unterbietet er die Werksangabe für den Sprint auf 100 km/h in 8,4 Sekunden um immerhin eine Zehntelsekunde. Auch darüber geht’s munter weiter und nach knapp 25 Sekunden ist die abgeregelte Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h erreicht. Nun wird die Leistung zugunsten der Reichweite zurückgenommen. Auf höchstens 95 PS, denn das ist die in den Papieren eingetragene Dauerleistung, die ausreicht, um den Fahrwiderständen bei 160 km/h zu trotzen und über mindestens 30 Minuten gehalten werden kann.
Eingetragene Dauerleistung des I D.4: 95 PS
Wovon wir abraten, denn eine halbe Stunde „Dauervollgas“ lässt die Reichweite schmelzen wie Butter in der Sonne – wegen des quadratisch zur Geschwindigkeit steigenden Luftwiderstands ist hohes Tempo nun mal der Reichweitenkiller Nummer eins. Die angegebene Maximalleistung von 204 PS ist also immer nur für eine begrenzte Zeit verfügbar – allerdings stets lange genug, um flott bis 160 km/h zu beschleunigen. Angesichts soviel ausgeklügelten Energiemanagements kann der Tiguan TDI nur mit den Spiegeln wackeln – er hat seine Maximalleistung immer am Start. Ganz wörtlich beim bestmöglichen Sprint per (versteckter) Launch Control bis hin zur Vmax von 200 km/h, wo sich die 150 PS mit dem Luftwiderstand schließlich die Waage halten. Bei diesem Tempo verschlingt auch er ein Mehrfaches seines gemittelten Testverbrauchs von 6,2 Litern Diesel pro 100 Kilometer – aber er hat ja reichlich davon im Tank ...
Dass der Testwagen auf Allradantrieb verzichtet, ist übrigens kein Beinbruch, sondern die rationalere Lösung, die Gewicht und Geld spart. Hand aufs Herz: Wann braucht man mit 150 PS auf deutschen Straßen wirklich Allradantrieb? Sofern man nicht Förster oder Jäger ist, sind Abstecher ins Gelände ohnehin verboten und Schnee meistert ein winterbereifter Tiguan dank Traktionskontrolle und ordentlicher Bodenfreiheit auch mit nur zwei angetriebenen Rädern.
Das Reisen auf der Autobahn versüßen beide, auch dank ihrer optionalen Adaptivdämpfer, mit hervorragendem Federungskomfort. Wobei der I D.4 – vermutlich wegen seines hohen Gewichts und längeren Radstands noch satter federt und zudem besser geradeaus läuft. Dass sich die Winterbereifung auf 18 beziehungsweise 19 Zoll beschränkt, kommt dem Fahrkomfort hier wie da zugute. Zum feinen Reisekomfort trägt auch der niedrige Innengeräuschpegel der beiden bei. Der Diesel des Tiguan wird nur bei Vollgas laut, sonst brummelt er zufrieden und gut gedämmt auf seiner Drehmomentwelle vor sich hin, um ab etwa 130 km/h akustisch hinter die Abroll- und Windgeräusche zurückzutreten. Insofern ist der Geräuschkomfort des konstant dahingleitenden Tiguan TDI nicht wirklich schlechter als beim I D.4, dessen Soundkulisse nur aus Fahrtwind und Reifen besteht. Was wir außer dem geringen Innengeräuschpegel an E-Autos schätzen, sind die ansatzlosen Zwischenspurts mit vollem Drehmoment – etwa zum Überholen – sowie das stufenlose, ruckfreie Beschleunigen an sich. Wenngleich das Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe des Tiguan sehr verschliffen und ohne Zugkraftunterbrechung schaltet, bei Überholvorgängen muss es doch erst einmal die Gänge sortieren, während der TDI Luft holt. Da ist der I D.4 schon über alle Berge. Und wie sieht’s aus mit dem Fahrverhalten? Nun, auch hier legt so ein Elektroauto Bemerkenswertes an den Tag. Denn trotz seines enormen Gewichts fährt sich der I D.4 selbst auf Winterreifen, nun, vielleicht nicht dezidiert sportlich, aber doch überaus präzise.
I D.4 mit präzisem Handling
Das ist zum einen der direkt übersetzten, höchst exakten (Progressiv-) Lenkung zu verdanken, zum anderen dem tiefen Schwerpunkt. Aufbaubewegungen halten sich in sehr engen Grenzen, ohne dass dies mit einer harten Fahrwerksabstimmung erkauft wäre. In Kurven lenkt der I D.4 engagiert ein und würde auch gerne mal das Heck etwas ausscheren lassen, wenn es nicht sofort von der früh und sehr restriktiv regelnden Stabilitätskontrolle auf den Pfad der Tugend zurückgeführt würde. Das Fahrverhalten hat also durchaus dynamische Ansätze, man spürt allerdings keinen echten Grenzbereich, sondern eher plötzliche Haftungsabrisse, die das ESP sogleich rigoros zusammenbremst. Flottes Fahren ist beim ID.4 also ein etwas eckiges Vergnügen. Im direkten Vergleich fühlt sich der Tiguan in Kurven viel cremiger, formbarer an. Seine Karosserie wankt deutlich stärker, und auch Lastwechselreaktionen bei plötzlicher Gaswegnahme oder Bremsen sind ihm nicht fremd. Doch alles geht vergleichsweise langsam und berechenbar vonstatten – bis es dem ESP mit dem Taumeln um die Hochachse irgendwann zu bunt wird und es den Anker wirft. Bis dahin kann man mit dem Tiguan aber – auch er trat mit optionaler Progressivlenkung an – schöner „arbeiten“ als mit dem linienstrengen I D.4.
Zudem ist die Bremse des Tiguan besser dosierbar. Beim I D.4 ist die Staffelübergabe zwischen Rekuperieren und mechanischem Bremsen zwar kaum zu spüren, allerdings verändert sich bisweilen der Druckpunkt, was bei schnellem Fahren irritieren kann. Wer den I D.4 jedoch artgerecht, sprich vernünftig und vorausschauend bewegt, kommt oft ganz ohne mechanisches Bremsen aus. Vor allem im Fahrmodus B ist „One-Pedal-Driving“ möglich, so dass, etwa in der Stadt, nur mit dem Fahrpedal beschleunigt und verzögert wird. Und da der I D.4 über die Hinterachse rekuperiert, genügen hier Trommelbremsen, die bei Unterforderung nicht so schnell verrotten wie Scheibenbremsen.
Reden wir über Geld: Der ID.4 profitiert vom Umweltbonus, der bei einem Netto-Basispreis bis 40.000 Euro derzeit insgesamt 7.180 Euro beträgt – 4.500 Euro fließen vom Staat und VW legt noch 2.680 Euro obendrauf. So rutscht der Basispreis des ID.4 von 46.335 Euro auf 39.155 Euro. Das verbessert sein Preis-Leistungs-Verhältnis freilich enorm, wenngleich er ab Werk nicht so prall ausstaffiert ist wie der Tiguan im Elegance-Trimm. Die meisten Extras sind beim ID.4 in Paketen gebündelt, wovon wir das Sportpaket Plus zu 1.150 Euro empfehlen, da es die Adaptivdämpfung und die Progressivlenkung mitbringt.
Extras beim ID.4 meist in Paketen gebündelt
Ferner macht das Infotainment-Paket Plus (1.450 Euro) Sinn, es umfasst unter anderem das Augmented-Reality-Head-up-Display und das „große“ Navigationssystem „Discover Pro“.
Der Tiguan Elegance kommt ab Werk unter anderem mit Digitalradio, Freisprecheinrichtung, Audiostreaming, Apple CarPlay und Android Auto, Lenkrad- und Sitzheizung, Notbremsassistent samt Abstands- und Kollisionswarnung sowie Distanzregelung ACC. LED-Scheinwerfer mit statischer Fernlichtasistenz sind Standard, bei Elegance kommen Abbiege-, Kurven- und Schlechtwetterlicht hinzu. Noch mehr kann das IQ.Light des Testwagens (615 Euro Aufpreis): Es verfügt über dynamisches Fernlicht, das den Gegenverkehr aus dem Lichtkegel „ausschneidet“. Als Elegance ist der Tiguan zwar mit selbstversiegelnden Reifen ausgestattet, dennoch würden wir ein Reserverad ordern, mit Fahrbereifung oder in der platzsparenden Version. So etwas ist beim I D.4 gar nicht mehr vorgesehen ...
Test kompakt
Der Tiguan ist das ausgewogenere, universell einsetzbare Auto, das sich keine Schwäche erlaubt. Achillesferse des ID.4 bleibt die Reichweite, was aber dank immer dichterer Schnellladeinfrastruktur kaum mehr ein echtes Problem ist. Auf der anderen Seite hat der ID.4 ausgewiesene Stärken, wie etwa der Federungskomfort oder das niedrige Innengeräusch. Er ist ideal für den Stadtverkehr und tägliches Pendeln, wohingegen der Tiguan TDI für lange Strecken bis auf Weiteres die erste Wahl bleibt. Zwei Konzepte also, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen sollten.