Arne Olerth
· 04.09.2022
Der Audi RS E-Tron GT demonstriert souverän, was in Sachen E-Antrieb derzeit möglich ist. Audi spendiert dem betörend gezeichneten Gran Turismo zudem ein hochkarätiges Fahrwerk. Ein Fest für Autofans!
Gran Turismo – welch klangvoller Name für automobile Feinschmecker. Ästhetik und Fahrgefühl genießen in dieser Fahrzeuggattung oberste Priorität, Nutzwert und Kosten spielen allenfalls eine untergeordnete Rolle. Ursprünglich als auf Komfort getrimmte Sportwagen für Langstreckenrennen konzipiert, griffen auch Autogourmets begeistert zu. Weniger solvente Autofans konnten die glamourösen Traumwagen zumindest auf der Großbild-Leinwand erleben. So etwa brachte die Figur des Geheimagenten James Bond das GT-Erlebnis regelmäßig einem breiten Publikum nahe. Das Rezept eines Gran Turismo: Unter hinreißend geformtem Blechkleid verbarg sich meist reinrassige Rennsport-Technik mit aufwendigen Radführungen und großvolumigem Motor. Die Blütezeit scheint lange vorbei zu sein, lag sie doch im dritten Quartal des letzten Jahrhunderts.
Audi aber transferiert mit dem E-Tron GT das Gran Turismo-Konzept in die Gegenwart, rüstet ihn mit einem zukunftsweisenden Elektroantrieb aus. Nach dem Test des Audi E-Tron GT Quattro mit 476 PS (GF 9/21) wissen wir, dass dieser auch anspruchsvolle Gentleman-Driver zufriedenstellt, ein faszinierendes Fahrerlebnis auch jenseits von hochoktanigem Kraftstoff bietet. Diesmal bitten wir den großen Bruder mit ikonografischem RS-Kürzel im Namen zum Test: den Audi RS E-Tron GT.
Kurzfristig bis zu 646 PS
Mit 598 PS steht dieser deutlich kräftiger im Futter als der sehr beeindruckende E-Tron GT, der RS ist mit 142.500 Euro zudem 38.500 Euro teurer.
Breit (1,96 Meter), flach (1,41 Meter), umwerfend – schon der erste Blick auf den Audi begeistert. Auch mit seinem Kingsize-Radstand von 2,90 Metern bei 4,99 Metern Länge unterstreicht er seinen Ausnahme- Charakter. Auf diesen exklusiven Eckdaten haben die Kreativen um Audis Design-Granden Marc Lichte eine wahrhaft atemberaubende, skulpturale Form geschaffen. Die langgezogene Haube vorne bedeckt die tiefe Front mit dem Singleframe-Kühlergrill – stilprägend. Der ist fast vollständig geschlossen, ein subtiler optischer Hinweis auf die Antriebstechnik. Matrix-Scheinwerfer sind Serienstandard beim RS-GT, das segmentierte Tagfahrlicht bringt zusätzliche Dynamik an die Front. Sogar Laserfernlicht ist möglich.
Die Seitenansicht offenbart die ganze Ästhetik des Gran Turismo – mit langer Haube, flacher Frontscheibe und einer früh abfallenden Dachlinie, die lang in einem Schrägheck ausläuft. Stark herausgearbeitet sind die großen Radhäuser – in Serie mit 20-Zöllern, hier sogar mit 21-Zoll-Felgen gefüllt. Ein optischer Fingerzeig auf den Quattro-
Antrieb. Der mit Sicken hervorgehobene, untere Karosseriebereich hingegen weist auf die dort platzierte Batterie hin. Das Heck wird von einem segmentierten Schlusslicht überspannt und einem zweistufig ausfahrbaren Heckspoiler gekrönt. Unten rundet ein gewaltiger Diffusor das Wagen- ende ab – klar die Schokoladenseite des GT.
Das Cockpit im Monoposto-Stil ist auf den Fahrer fokussiert. Man sitzt sportlich tief, eingefasst von einer hochgezogenen Mittelkonsole. Kopf- und Ellenbogenfreiheit passen, die klasse Sport Pro-Sitze ebenso.
Vollwertige Ausstattung
Unter einer Hutze informiert ein Digital-Instrument, das optionale Head-up-Diplay erleichtert den Ablesekomfort. Wie von Audi gewohnt, ist die Bedienung sinnvoll auf analoge und digitale Elemente verteilt. So gibt es einen zentralen Touchscreen mit Klick-Bestätigung. Darunter platziert: eine schlanke Klima-Bedieneinheit mit intuitiv bedienbaren Tasten. Eine Reihe klassischer Taster bildet den Übergang zur Mittelkonsole – perfekt. Im Fond geht es etwas enger zu. Sitzgrößen hadern ein wenig mit der Kopffreiheit, die für Durchschnittsgrößen aber passt. Der 405 Liter fasst der Kofferraum, 55 davon gehen an den Subwoofer des B&O-Soundsystems (Serie), der vordere Frunk bietet 81 Liter.
Der Kern der Faszination „Gran Turismo“ ist stets ein exklusiver Antrieb – der RS E-Tron GT kann hier eigene Glanzpunkte setzen. An den Achsen – vorn mit Doppelquerlenkern, hinten mit Mehrlenkern konzipiert – sitzt je eine permanent erregte Synchronmaschine, die sich durch besondere Effizienz auszeichnet. Ihre Statorwicklungen bestehen aus rechteckigen Kupferstreben, sogenannten Hairpins. Dadurch kann besonders viel Kupfer in den Stator eingebracht werden – woraus ein Plus an Leistung und Drehmoment resultiert. So werden kurzfristig bis zu 646 System-PS und 830 Newtonmeter platziert. Als wäre das noch nicht genug, ist der hintere Motor an ein Zweiganggetriebe zur wählbaren Momenterhöhung gekoppelt – irre! Die Serien-Quersperre sorgt für Schlupffreiheit.
Probieren wir es aus! Im Dynamic- Modus sind alle Systeme geschärft, der kurze Gang des Heckmotors eingelegt. Fuß von der Bremse – und Vollstrom! Was nun passiert, fühlt sich in etwa so an, als würde die Faust Gottes das hübsche Heck des Audi rammen: Brachial schießt der 2,4-Tonner voran, lässt schwache Nackenmuskeln kapitulieren. Die 100er Marke fällt nach 3,4 Sekunden – ein Zehntel langsamer als versprochen –, Tempo 200 ist nach 11,5 Sekunden erreicht – mehrfach hintereinander reproduzierbar. Der E-Tron GT brauchte zwei Sekunden länger (0–100 km/h: 4,1 s).
Die steife Karosserie und das aufwendige Achslayout mit adaptiver Luftfederung und Progressivlenkung wurden um die Optionen 21-Zoll- Mischbereifung und Allradlenkung erweitert. Perfekt aufeinander abgestimmt sorgt das für ein leicht-
füßiges, stets transparentes Fahrverhalten, das so gar nicht zu der angegeben Masse passen will. Großes Kino! Der Quattro-Antrieb agiert spürbar heckbetont – wenngleich der GT nur auf Nachdruck keck den Designerhintern ausschwenkt. Verzögert wird vehement und fadingresistent mit Carbonscheiben und 10-Kolben-Sätteln vorn (5.600 Euro). Auch eine Wolframcarbid-Bremse mit optimiertem Ansprechverhalten ist lieferbar (500 Euro). Befehle am Volant werden direkt umgesetzt, bei hohen Geschwindigkeiten – die Topspeed liegt bei 250 km/h – liefert der RS GT einen superstabilen Geradeauslauf. Wer dem Highspeed-Potenzial erliegt, kann den 84-kWh-Akku in einer starken Stunde leeren – auch im Zeitalter der E-Mobilität ist für Hochgeschwindigkeitsfahrten ein ICE-Zuschlag fällig. Auf der gemischten GF-Verbrauchsrunde mit Rekuperationsphasen aber nahm der RS GT 23,4 kWh, kam 385 Kilometer weit. Und: Er lädt dank 800-Volt-Technologie mit bis zu 270 kW. Von fünf auf achtzig Prozent geht’s in etwas mehr als 20 Minuten – dazu aber muss das Navi den Akku thermisch vorkonditionieren.
Doch ist die ambitionierte Fahrt nur eine Facette. Lässiges Cruisen liegt dem Gran Turismo mindestens genauso, lässt den Verbrauch auf unter 20 kWh sinken. Im Comfort-Modus verflauschen die Federelemente Belagsmalaisen routiniert, der aero- dynamisch optimierte Audi verwöhnt zudem mit klasse Akustikkomfort. Volles Verwöhnprogramm gibt es auch in Sachen Assistenz: Die ist so umfangreich, dass Audi sie in drei sinnreichen Paketen zusammen- gefasst hat. Wahlweise gibt’s auch die Komplettlösung für 5.010 Euro. Damit fährt der Audi RS E-Tron GT auf Knopfdruck teilautonom, lenkt, bremst und beschleunigt selber. Und parkt am Ende der Fahrt automatisch ein. Dazu kann der Fahrer aussteigen und das ganze über sein Smartphone aktivieren.
Daran hätte auch der britische Leinwand-Geheimagent seine Freude. Der Audi RS E-Tron GT wäre ein würdiger Aspirant für eine Rolle im nächsten Film. Dass er das Format zum Kinohelden hat, durfte der Ingolstädter Gran Turismo schließlich schon im Avenger-Blockbuster „Endgame“ beweisen.
Test kompakt
Der Audi RS E-Tron GT transferiert das Gran Turismo-Konzept mit
betörend gezeichneter Karosserie, irrwitzigen Fahrleistungen und klasse Komfort in die Neuzeit. Bei vernünftiger Fahrweise passt die Reichweite, die 800-Volt-Technik verkürzt Ladezeiten effektiv. Gleichwohl ist der schwächere und ausstattungsbereinigt mehr als 25.000 Euro günstigere Bruder E-Tron GT kaum weniger beeindruckend.
Danke an: Weingut M. Scheider, Ellerstadt