Porsche-RückblickDie Mutter aller Rallyes

Thomas Ammann

 · 09.02.2023

Porsche-Rückblick: Die Mutter aller RallyesFoto: Marianne Fürstin zu Sayn-Wittgenstein, Thorsten Doerk
Metternichs Porsche 356 mit der noch zweigeteilten Windschutzscheibe gehört zu den ersten 500 in Stuttgart gebauten Exemplaren. Die Buchstaben »AH« im Kennzeichen stehen für »Amerikanische Besatzungszone Hessen«.
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Neuanfang 1951: Das erste deutsche Langstreckenrennen nach dem Krieg führte nach Wiesbaden. In jenen Jahren war Rennsport noch ein beliebter Zeitvertreib für Aristokraten. Ein Rückblick – 70 Jahre später.

Im Wiesbadener Kurpark endet im Mai 1951 das erste Langstreckenrennen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Publikumsandrang am Ziel ist groß, Motorsport gehört in jenen Jahren zu den größten Attraktionen.
Foto: Marianne Fürstin zu Sayn-Wittgenstein, Thorsten Doerk

Der Kurpark in Wiesbaden ist seit jeher ein Ort der Erholung und Unterhaltung. Wo sonst Kurgäste flanieren oder Orchesterklängen in der Konzertmuschel lauschen, geht es an diesem letzten Samstag im Mai 1951 ungewöhnlich laut zu. Zwischen 16 und 16:30 Uhr müssen die Teilnehmer einer zweitägigen Rallye laut Reglement an diesem 26. Mai das Ziel im Kurpark erreichen. Die Standuhr auf dem Foto beweist, dass die Porsche-Piloten Paul Alfons von Metternich-Winneburg und Wittigo von Einsiedel pünktlich eintreffen. Das Team wird enthusiastisch begrüßt, wenn auch die Zuschauermenge recht überschaubar ist.

Paul Fürst von Metternich gibt seinen Beruf gern mit »Weinbauer« an. Seine zweite Leidenschaft ist der Motorsport, dem er auch nach seiner aktiven Karriere als Rennfahrer lebenslang verbunden bleibt, zunächst als Präsident des AvD, später auch als Präsident der FIA.

Dieses Rennen wirkt nicht gerade wie ein motorsportliches Großereignis, und dennoch hat es historische Bedeutung: Hier in Wiesbaden endet die erste deutsche Langstreckenfahrt nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist die Fortsetzung einer Tradition, die bereits 1921 mit einem Rennen auf dem Opel-Oval-Testgelände in Rüsselsheim begann. Ab 1954 sollte sie unter dem Namen »Internationale Rallye Wiesbaden« noch jahrzehntelang fortgesetzt werden.

»Es war die kürzeste Rallye«, so von Frankenberg, »die Rallye mit der merkwürdigsten Ausschreibung, den meisten Verwirrungen und dem meisten Kopfschütteln.«

Der fürstliche Pilot und sein gräflicher Beifahrer bestreiten die Rallye in Metternichs kurz zuvor erworbenem Porsche 356, der zu den ersten 500 in Stuttgart gebauten Exemplaren zählt. Bis dahin habe »gottlob« das Geld »nur für kleinere Autos« gereicht, schreibt Gattin Tatiana von Metternich 1995 in ihren Erinnerungen »An der Rennstrecke«. Jetzt, mit dem für damalige Verhältnisse unerhört schnellen Porsche, macht sich die Fürstin große Sorgen um den rennsportbegeisterten Gatten. »So sehr ich um ihn bangte«, schreibt sie, »es war ihm zu wichtig, als dass ich ihn daran hätte hindern können.« Ganze 40 PS Leistung entwickelt der 1.100-cm³-Motor, die für ein Spitzentempo von ungefähr 140 km/h gut waren. Später sollte der Fürst, der als Beruf gern »Weinbauer« angab, bei der Rallye Monte Carlo und den 24 Stunden von Le Mans deutlich schneller unterwegs sein. Nach der aktiven Karriere wirkt er ab 1960 als Präsident des AvD (Automobilclub von Deutschland) und von 1975 bis 1985 als Präsident des internationalen Automobilverbandes FIA.

Im Jahr 1951 nimmt noch ein anderer schneller Adelsmann an der Langstreckenfahrt nach Wiesbaden teil: Richard von Frankenberg, ein ebenso talentierter wie furchtloser Rennfahrer, der damals als freier Journalist in Porsche-Diensten steht und 1952 erster Chefredakteur des damals neu gegründeten Porsche-Kundenmagazins »Christophorus« werden sollte. Der rasende Journalist, der auf Porsche 356 in der 1300er-Klasse startet, hält die ausführlichsten Schilderungen des Rennens von 1951 fest: »Es war die kürzeste Rallye, an der ich jemals teilgenommen habe«, schreibt von Frankenberg 1958 in seinen Erinnerungen »Mein geliebter Sport«, »die Rallye mit der merkwürdigsten Ausschreibung, mit den meisten Verwirrungen und dem meisten Kopfschütteln auf allen Seiten.«

Von Hans Herrmann und Graf Berghe von Trips über Jochen Rindt bis zu Graham Hill, Jackie Stewart oder Niki Lauda – kaum jemand kam den Top-Piloten der 1950er-, 60er- und 70er-Jahre mit der Kamera so nahe wie Marianne Fürstin zu Sayn-Wittgenstein.

Das Reglement wies nämlich zwei Besonderheiten – man kann auch sagen: Skurrilitäten – auf. Zum einen konnten die Teilnehmer den Startpunkt aus einer Liste verschiedener Orte in Europa selbst aussuchen, wobei diese Wahl das geforderte Durchschnittstempo bestimmte. »Auf den guten Straßen und kurzen Strecken«, erklärt von Frankenberg, »musste man einen sehr hohen Durchschnitt fahren, um auf die gleiche Punktzahl zu kommen wie ein Mann, der auf mäßig guten Straßen eine sehr lange Anfahrt hinter sich gebracht hatte.« Zum anderen war das Leistungsgewicht ein entscheidender Faktor für die Bestimmung des Durchschnittstempos, und zwar, so von Frankenberg, »das effektive Fahrgewicht im Verhältnis zur PS-Leistung. Je schwerer der Wagen wog, desto ungünstiger wurde – das ist klar – das Leistungsgewicht«. Desto geringer war aber auch die geforderte Durchschnittsgeschwindigkeit. Das Gewicht des Wagens, mit Insassen(!), wurde nach Durchfahren der Ziellinie auf einer offiziellen Waage geprüft.

Logische Folge für Richard von Frankenberg: Mit einem möglichst schweren Auto auf einer Strecke, die möglichst kurz ist und hohes Tempo erlaubt, hat er den idealen Mix. »Und folglich war ein Beifahrer mit mehr als zwei Zentner Lebendgewicht gerade das richtige«, erklärt der Schnellrechner in seinen Erinnerungen. Den findet er dann auch. »Doch dies allein genügte mir nicht: ich packte also noch zwei zentnerschwere Sandsäcke in den Wagen, die am Start plombiert wurden.« Auch den Startpunkt wählt er mit Bedacht: ein Autobahnstück, das noch zum Kasseler Stadtgebiet zählt, wie von Frankenberg durch intensives Kartenstudium herausfindet.

Zwei Polizisten bestellt er als Zeugen dorthin, damit auch alles seine Ordnung hat. So kann er ungefährdet den Klassensieg bis 1.300 cm³ einfahren. Die Rennleitung ermittelt »kopfschüttelnd« 137 km/h als Durchschnittsgeschwindigkeit. Frankenberg hatte 127 km/h errechnet, immer noch ein stolzes Tempo für einen Sportwagen mit 44 PS Leistung. Auch wenn es ein ganz besonderer Porsche war: das erste in Stuttgart gebaute 356 Coupé, das Porsche als Versuchs- und Vorführwagen einsetzt. Wegen seiner hellgrauen Lackierung trägt es den Beinamen »Windhund«.

Es waren die Jahre, in denen der Motorsport als Ausdruck eines heroischen, freien und weltläufigen Lebensstils galt – allen Tragödien zum Trotz.

Paul Fürst von Metternich und Beifahrer Wittigo Graf von Einsiedel entscheiden sich für eine weniger aggressive Strategie und starten in Paris. Besondere Vorkommnisse sind nicht bekannt. Auf jeden Fall ist nach rund 550 Kilometern am Ziel die Stimmung im Team und bei den Ehegattinnen prächtig, wie ein weiteres Foto von jenem Tag beweist. Da stützt sich Burgl Gräfin von Einsiedel neben Tatiana Fürstin von Metternich auf die Tür des 356, während die Herren Metternich und Einsiedel, Letzterer kniend, durchaus mit sich zufrieden wirken. Auch wenn sie in der 1100er-Klasse nur den 22. Platz belegten. Als Klassensieger wird Heinz Schellhaas genannt, auch er auf Porsche 356.

Die beiden flotten Aristokraten sind ein eingespieltes Team. Im Jahr 1952 nehmen sie mit Metternichs 356 sogar an der legendären Mille Miglia teil. Brenzlige Situationen bleiben nicht aus: »Es hatte angefangen zu regnen«, berichtet der Fürst später im Magazin »auto, motor und sport« (»ams«), »Ich fahre die Kurve von der linken Seite der Straße an, und auf einmal fühle ich einen altbekannten Freund links neben mir vorrücken. Es war der 1100er-Motor. Er wird immer schneller, ich versuche noch zurückzuschalten, aber zu spät, er dreht das Heck schon zu weit nach vorn …« Der 356 kreiselt, aber Metternich kann die Situation gerade noch meistern. Das Team kommt heil ins Ziel. Lohn der Angst: Ein Klassensieg und der 80. Platz im Gesamtklassement.

»Wir sind die glücklichsten Leute der Welt!«, freut sich Metternich in seinem »ams«-Bericht. »Zwei Outsider feiern ihren ersten Auslandserfolg!« Auch diese Szene wird im Bild festgehalten. Fotografin ist Marianne Fürstin zu Sayn-Wittgenstein, der auch die Aufnahmen aus dem Wiesbadener Kurpark zu verdanken sind. Gentlemen-Racer, Jetset, Rennsport-Adel – Fürstin zu Sayn-Wittgenstein, geboren im Dezember 1919 und damit heute 101 Jahre alt, war stets mit ihrer Kamera zur Stelle. Mehr als 300.000 Fotos dürften in den 85 Jahren ihrer fotografischen Karriere entstanden sein.

Von Hans Herrmann und Graf Berghe von Trips über Jochen Rindt bis zu Graham Hill, Jackie Stewart oder Niki Lauda – kaum jemand kam den nationalen und internationalen Top-Piloten der 1950er-, 60er- und 70er-Jahre mit der Kamera so nahe wie Marianne Fürstin zu Sayn-Wittgenstein. »Wir nahmen den Käfer und fuhren bis nach Spanien«, erzählt sie in dem Fotoband »Stars & Sportscars«, »nicht ohne unterwegs den einen oder anderen Freund in Le Mans getroffen zu haben und auf dem Rückweg den ›Großen Preis von Bern‹ anzusteuern – denn auch dort fuhren Freunde von uns Rennen.«

Es waren die Jahre, in denen der Motorsport allen Tragödien zum Trotz als Ausdruck eines heroischen, freien und weltläufigen Lebensstils galt. »Die Sehnsucht nach neuen Orten, nach der Begegnung mit neuen Menschen war überwältigend – die Lust am Leben unglaublich enorm«, schreibt die Fürstin über diese bewegten Zeiten. Ihre Fotos seien »nicht nur Bilder eines automobilen Jahrhunderts«, urteilt Automobilhistoriker Jürgen Lewandowski, »sie sind auch Ausdruck einer Jahrhundertpersönlichkeit«.

Ein ganzes Jahrhundert hat nun auch die Rallye Wiesbaden überdauert seit dem Start des ersten Rennens im Jahr 1921. Und vor genau 50 Jahren, 1971, feierte ein gewisser Walter Röhrl zusammen mit Beifahrer Herbert Marecek auf Ford Capri einen Gesamtsieg. Es war der Auftakt für Röhrls internationale Karriere. 2021 ist also ein großes Jubiläumsjahr für die Rallye Wiesbaden. Geplant war sie als »touristische Langstreckenrallye für historische Automobile und sportliche Automobilisten«. Da sie in diesem Jahr pandemiebedingt nicht stattfinden kann, soll 2022 nachgefeiert werden. Und sicherlich wird man sich bei der Gelegenheit auch gern an das Langstreckenrennen von 1951 erinnern.