Gerald Enzinger
· 24.04.2023
Ein Automobil-Analyst und ein Porsche T/R, der nach einem halben Jahrhundert nach Le Mans heimkehrt. Die Geschichte einer emotionalen Reise auf einem aufregenden Kurs.
In Le Mans scheint die Sonne , und sie scheint ausdauernd und intensiv. Die Lage am westlichen Rand der mitteleuropäischen Zeitzone sorgt für lange Abende. Es ist, als ob man hier das Leben verlängern könnte. Und eigentlich tut man das auch. Denn die 24 Stunden von Le Mans wirken in ihrer klassischen Version immer jünger als in der modernen, die meist drei Wochen davor über die Bühne geht. Die Le Mans Classic hat noch eine jugendliche Unschuld, sie ist Wildnis und noch nicht so gezähmt wie das Hauptrennen, ist Start-up, nicht Großkonzern, eine Wiederbelebung des Geistes des berühmtesten und gefährlichsten Autorennens der Welt. Hier werden die aufregendsten Rennwagen der vergangenen Dekaden im Renntempo bewegt.
Die Le Mans Classic wirkt irgendwie jünger als die eigentlichen 24 Stunden. Alles ist noch unbefangener, wilder, purer.
Arndt Ellinghorst wird einen dieser Wagen im Renntempo bewegen. Er ist es gewohnt, ein Lenker zu sein, wenn auch anders. Er ist Automobilanalyst. Der Deutsche arbeitet für die amerikanische Investmentbanking-Beraterfirma Evercore International Strategy & Investment Group in London. Er ist Head of Global Automotive Research, sprich: der Chef. Der 46-Jährige gibt Anlageempfehlungen, basierend auf Kennzahlen wie Kurs-Gewinn-Verhältnissen, dem Cashflow oder Liquidationswerten. Sein Team aus 25 hoch qualifizierten Menschen unterstützt ihn dabei. Arndts Wissen ist gefragt, man sieht ihn in den bekanntesten Business-TV-Sendern der Welt, er wird in renommierten Zeitungen in Deutschland, England oder Amerika zitiert. Was er sagt, das bewegt Menschen – und manchmal Millionen von Dollar, Euro oder Pfund.
Aber an diesem Wochenende hat er frei. Zeit für das, was all seinem Denken unter der Woche als Grundlage dient: das Auto. Für eines, das vielleicht als das perfekteste und purste seiner Art gilt, seit Generationen: Porsche 911. Und das auf einem Rennkurs, der mehr Versuchung ist als Verkehrsverbindung: Hunaudières, Tertre Rouge, Mulsanne, Arnage. Diese Passagen verteilt auf 13,6 Kilometer vermitteln die V-Momente von Menschen in Bewegung: das Verlangen, die Verführung, das Vergnügen, die Vollendung. All das verspricht Le Mans. Kleingedruckt würden in diesem Pakt zwischen Rennfahrer und Rennstrecke noch weitere Wörter stehen wie Verderben oder Verhängnis. Aber Le Mans, das ist Hingabe, und Hingabe hat keinen Sinn für Kleingedrucktes, da denkt man nur groß. Wie Arndt Ellinghorst es immer tut. Als Mann mit Antrieb und mit Leidenschaft ist es nicht nur das Rennen als solches, das ihn in seinen Bann zieht, sondern auch sein Partner in dieser Nacht: ein Auto mit hoher Drehzahl und mit einem Leben wie ein Drehbuch.
Als das Rennen sich dem Ende nähert, taucht der Neffe jenes Mannes auf, der hier 1969 gefahren ist. Er ist gerührt und bedankt sich, sein Blick streift über T/R, das Wesen aus einer versunkenen Welt.
Alles beginnt am 19. Juli 1967. Ein Mittwoch, der so heiß ist, dass es Polizisten per Erlass erlaubt wird, ohne Schlips und Kragen ihren Verkehrsdienst zu erfüllen. An diesem Tag bekommt Karl Schweizer aus Waiblingen seinen Porsche 911 T/R. Doch die Freude ist nur kurz, das Auto wird noch im selben Jahr bei einem Unfall zerstört. Der Wagen bekommt eine neue Karosserie und wird nach Paris verkauft, an den Fahrschulbesitzer Philippe Farjon. Der rüstet den 911 zu einem Rennwagen um, um gemeinsam mit seinem Freund Jacques Dechaumel die 24 Stunden von Le Mans 1969 zu bestreiten.
Ihr unorthodoxer Weg nach Le Mans sorgt für Aufsehen. Ein Kamerateam begleitet die beiden und dreht einen Dokumentarfilm über das Auto mit der Startnummer 67 und dem behördlichen Kennzeichen 18 VQ 75. Der Beobachter lauscht den Dialogen der beiden Männer, hört, wie sie über Drehzahlen reden, von Rundenzeitverbesserungen, und wie sie ihre Strategie abstimmen. Sie essen Beefsteak, aber das meiste lassen sie stehen; Aber nein, es sei nicht die Angst, die sie satt mache. Man spürt die Unsicherheit in den Boxen, als ein Unfall in Maison Blanche über Lautsprecher gemeldet wird, ihr Wagen war nicht betroffen. Am Ende werden sie auf Platz 14 geführt, der Porsche hat 3.845 Kilometer absolviert. Schnitt: 160 km/h. Auch 1970 und 1971, beim schnellsten Rennen dieses Jahrhunderts, wird dieser Porsche hier antreten, ehe sich seine Spur für Dekaden verliert. – Bis zu jenem heißen Tag 2018, als der Porsche mit der Nummer 67 in neuem Glanz und mit altem Kennzeichen wieder in der Box auftaucht. Michael Roock (Roock Sportsystem) hat ihn für Arndt Ellinghorst restauriert. »Ich wollte, dass dieses Auto zurückkommt nach Frankreich, nach Le Mans. Auch als Würdigung an diese zwei Jungs, die den Porsche einst wieder so hergerichtet haben, um hier zu fahren. Ich kannte die Geschichte davor ja nicht, aber man erlebt hier, dass dieser Porsche viele Menschen sehr berührt hat und es vielen etwas bedeutet, den Wagen hier wieder zu sehen. So wie er war, bis hin zum kleinsten Aufkleber, der Startnummer, allem«, beschreibt Ellinghorst den Anspruch dieses ungewöhnlichen Race-Projekts.
Das Gestern des Wagens, das heute fesselt, die Technik des Wagens – durchaus von gestern, die bis heute fasziniert. Zeitlose Zeitmaschine 911: Ellinghorst blüht auf in der Schönheit von Zahlen und Mechanik: »Der Porsche hat natürlich ein Rennfahrwerk, das Fahrzeug wiegt 940 Kilogramm, die Schaltung ist unglaublich gut, die haben das Getriebe relativ lang übersetzt für Le Mans, das hat wunderbar funktioniert.« Fakten im Kopf. Zu viele. Es entsteht eine Pause, ein Seufzen, dann: »Der ist einfach wunderbar zu fahren.« Punkt.
Arndt ist trotz seiner Berufswahl nicht als Petrolhead im klassischen Sinn aufgewachsen, also ohne Fernseher am Sonntag und ohne Formel 1. »Aber der Mythos Le Mans hat mir schon etwas gesagt. Steve McQueen, der Film, all das, was man sich über die Geschichte erzählt«, resümmiert er die Jugend. Heute weiß er: »Es ist das Rennen aller Rennen.« Und, seit er gemeinsam mit seinem Bruder in das Thema Auto-Restauration reingeschlittert ist, war für ihn immer eines klar: Sollte er je die Le Mans Classic fahren, dann nur in einem Porsche: »Mich begeistern die alten Wagen, die Geschichte des Unternehmens und teilweise die Sturheit, mit der Ziele verfolgt und erreicht wurden, von denen andere sagen, das können sie nicht schaffen. Die Bereitschaft, ans Limit zu gehen, richtig hart zu arbeiten, sich und das Material auf das Äußerste zu fordern. Rennen wie dieses sind genau dadurch zum Markenkern von Porsche geworden.« Die Geschichte von Porsche und Le Mans fasziniert. Und in der Boxengasse von heute lebt mit einem Mal dieses Gestern wieder auf. Elegant gekleidete Damen stehen an der Mauer und messen die Zeiten mit der Stoppuhr. Okay, die ist heute am iPhone, aber allein, dass die Rundenzeiten danach händisch auf Papier geschrieben werden, ist wie ein Ausflug in eine versunkene Welt.
Aber Arndt will nicht nur sentimental sein, sondern auch schnell. Deshalb hat er mit Claudia Hürtgen eine der bekanntesten deutschen Profi-Rennfahrerinnen in sein Team geholt. Sie ist hier viermal das Hauptrennen gefahren, einer ihrer ersten Mentoren war Dr. Helmut Marko, der 1971 hier das Rekordrennen gewonnen hat – genau in dem Jahr, als der Porsche Nummer 67 zum letzten Mal seine Runden zog. Arndt hört Claudia Hürtgen genau zu. Für einen Menschen, der gewohnt ist, laut zu denken, andere zu inspirieren und den Weg zu zeigen, mag das ungewohnt sein, aber er tut es, und man erkennt daran auch den Respekt, den er vor diesen 38 Kurven auf 13,629 Kilometern hat. Er hört Claudia Hürtgen zu – und auch der Strecke selbst, die klingt wie keine andere, vor allem in der Nacht, wenn nebenan das Volksfest immer lauter wird. Dazu der Geruch von Gegrilltem, wenn die Fans draußen in den Wäldern gemeinsam essen und trinken. Und er lauscht dem Porsche mit der Nummer 67. Er scheint nicht nur für Le Mans gemacht – es ist für Le Mans gemacht. Vor einem halben Jahrhundert von zwei Männern, die stur ein Ziel verfolgten und erreichten.
Es ist Sonntag, später Vormittag. Alle sind schon müde und erschöpft von der Jahrhunderthitze dieses Tages. Plötzlich steht ein Mann in der Box vor Arndt und erzählt, er sei der Neffe von Jacques Dechaumel. Und dann sprudelt es aus ihm heraus: Was es für ihn bedeutet, das Auto wieder zu sehen, schnell und schön wie damals. Es ist dieser Augenblick, der ewig bleiben wird. Eine Geschichte, so unerwartet, so unglaublich wie die Geschichte dieses Porsche selbst. Eine Geschichte, wie sie nur Le Mans schreiben kann. Dass der Porsche mit der Nummer 67 am Ende zwei von drei Rennen seiner Klasse gewinnt, ist Ehrensache. Und Nebensache.