Porsche-MenschenChris Jury – Scally and the Mod Rod

Jeff Sabatini

 · 23.03.2023

Porsche-Menschen: Chris Jury – Scally and the Mod Rod
Foto: Ty Milford
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Er ist ein schlaksiger Kerl, sofort als britisch zu erkennen. Er lebt in einem netten Haus in einer netten Nachbarschaft in der netten Stadt Portland/Oregon. Und er fährt Porsche. Gern laut, aber noch lieber leise. Von wem wir sprechen? Von Chris Jury, Sportschuh- und Modedesigner. Und Porsche-Fan natürlich.

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Foto: Ty Milford

Mit seinen Nachbarn möchte man es sich nicht verscherzen. Als Autoliebhaber überlegt es sich Chris Jury zweimal, ob es eine gute Idee ist, seinen Porsche am frühen Sonntagmorgen in der Einfahrt aufbrüllen zu lassen. Das raue Aufheulen des Sechszylinder-Boxers, das in den eigenen Ohren so schön klingt, und der Dunst von unverbranntem Benzin bei der Abfahrt, den man so gern riecht, ist der Albtraum eines jeden Langschläfers, der sich auf den Sonntagsbrunch freut. Und die Leute in Portland lieben Brunch.

»Ich liebe es, Dinge zu bauen. Ich liebe die Herausforderung, Dinge selbst in die Hand zu nehmen.« Chris Jury

Chris sieht dieses Problem – nein: diese Herausforderung – als Chance. Nicht unbedingt, weil sich die Nachbarn beschwert hätten, denn es sind alles nette Nachbarn, sondern weil sich so die Gelegenheit bot, etwas zu gestalten und zu erschaffen. In diesem Fall eigentlich nichts Weltbewegendes: nur eine Art Dezibel-Killer mit Filterfunktion. Erbaut aus einem Aufbewahrungsbehälter aus Kunststoff, der angebohrt und mit Glasfaser gefüllt wurde. Zwei lange, flexible Abflussrohre ragen aus dem Deckel wie die Arme eines Oktopus. Sie werden mit je einem Auspuff des grauen »Panzer-Versuchsfahrzeugs« (O-Ton Chris) verbunden. Resultat: ein leise startendes Auto, keine Öl- oder Benzindämpfe. Chris Jury verwendet diesen Apparat jedes Mal, wenn er den getunten 2,2-Liter-Motor anfeuert, der jetzt in seinem 1971er 911 steckt. So auch an dem Freitagabend, an dem er mich auf eine Fahrt mitnimmt. Ich schaue fasziniert zu. Chris lacht: »Ich liebe es, Dinge zu bauen. Ich liebe die Herausforderung, Dinge selbst in die Hand zu nehmen.« Eine beneidenswerte Einstellung.

Wir müssen erst seinen samtroten 964 wegfahren, der die Oktopusdose nicht benötigt, weil er ein relativ modernes Fahrzeug ist und sich beim Anlassen sehr brav verhält. Danach schiebt Jury den grauen Wagen von seinem Werkstattbereich im hinteren Teil seiner großen Zwei-Fahrzeug-Garage, die wie ein Wohnzimmer wirkt, auf die Einfahrt, bevor er den Zündschlüssel dreht. Sobald der Motor etwas aufgewärmt ist, das Patschen nachlässt und der Motor sein Standgas hält, legt er die selbst gebastelte Vorrichtung zurück in die Garage und wir fahren los.

Auf der Straße fühlt sich der Wagen wie ein Rennauto an – nicht wie der 912 aus dem Jahr 1968, der er einst war. Dieser Eindruck entsteht vor allem dadurch, dass der Lack entfernt wurde, die Fenster aus Acryl und die Karosserieteile aus Glasfaser bestehen. Und weil der Wagen sehr, sehr laut ist. Dazu kommen der Überrollkäfig, die unnachgiebige Federung und eine Bodenfreiheit, die mich befürchten lässt, dass wir die Ölwanne in einem der Schlaglöcher verlieren, die wir beim Fotoshooting in Portlands Industriegebiet durchfahren.

Ein Modelabel für sich selbst. Chris Jurys Mode lehnt sich an den Stil der Madchester-Bewegung an. Die Fans dieser Musik, die sich selbst Scallys nannten, sind heute rar. Der Britpop wurde zur bestimmenden Richtung für die 90er-Jahre.

Chris ist Designer bei der Sportschuhmarke Nike. Das klingt nach dem coolsten Job der Welt, wenn man sich Vorstandsmeetings mit Leuten wie Michael Jordan und LeBron James vorstellt. Aber in diesem Teil der Erde, dem Standort von Nike und dem nordamerikanischen Hauptquartier von Adidas, sind Schuhdesigner fast so üblich wie Craft-Beer-Brauer. Zwar sind Sportschuhe sein Beruf, aber Chris sieht seine wahre Berufung im Machen. Er ist ein Mensch, der jenseits von Zeichnungen und Modellen keine Angst hat, sich die Hände auch mal schmutzig zu machen.

Das bringt uns wieder zurück zum Auto – einer ziemlich freien Hommage an die Rennautos der 60er-Jahre, mit denen Chris dank seiner Großeltern aufgewachsen ist. Er arbeitet jetzt schon mehr als ein Jahrzehnt an diesem Vintage-Porsche. Als er ihn kaufte, seinen zweiten 912, war er nur noch eine 900-Dollar-Rohkarosse ohne Motor, dafür aber mit durchgerostetem Boden. Chris sah das als Ansporn, das Schweißen zu lernen. Sechs Jahre lang konnte sich das Fahrzeug nur dann bewegen, wenn es geschoben oder getragen wurde, während dieser Zeit zog Chris von Portland zurück nach England und später nach Deutschland, um einen neuen Job bei Adidas anzunehmen – mit beiden Porsche im Schlepptau.

Ein 912 als Basis: Mehr als eine sehr verrostete Rohkarosserie war nicht übrig. Chris konnte also nach Herzenslust loslegen. Aber zuerst musste er schweißen lernen.

Um den vollen Umfang seiner Hingabe dem Projekt gegenüber erkennen zu können, muss man wissen, dass Jury mit seiner Frau Rebecca und seinen damals fünf Monate alten Zwillingsmädchen Milly und Aoife (ein irischer Vorname, sprich: Ifa) ohne Haus und Job nach Großbritannien zog. Da sie bei Verwandten wohnen mussten, dachte Chris nicht mal daran, seine zwei Porsche überhaupt auszuladen. Und so verweilten die beiden Fahrzeuge eng verpackt, bis sie 2015 mit dem Jury-Clan zurück nach Portland reisten. »Sie haben mehr Strecke im Versandcontainer hinter sich gebracht, als sie gefahren sind«, witzelt Jury. Das ist auch deshalb lustig, weil es wahr ist.

Dadurch, dass nur Chris – ausschließlich Chris – an dem Wagen arbeitet, ist der graue Ex-912 (wenn man mal ehrlich ist) eines dieser ewig unfertigen Projekte, die es nur unter den Enthusiasten gibt, die unter der schlimmsten Art von Autosucht leiden. Das liegt auch an der haargenauen Vorstellung des Besitzers, der sich seine Ideen aus verschiedensten Quellen zusammensucht, die Umbauarbeit aber so ausführt, dass der Wagen keinem anderen 911 ähnlich sieht. Beispiel: Manche erinnern sich vielleicht daran, dass es einst besonders cool war, sein Auto mit Rust-Oleum und Schaumstoffrolle zu lackieren. Chris hat das wirklich getan. Obwohl das Ergebnis eher einer Grundierung ähnelt, ist die Farbe tatsächlich RAL 7001 – Silbergrau.

Was Jurys Herangehensweise von den unseriösen Geizhälsen unterscheidet, ist jedoch, dass Chris keine halben Sachen macht. Er ist sparsam, das stimmt, aber seine Genauigkeit und sein Auge fürs Detail gleichen denen eines Profis. Er hat fast alles an seinem Porsche in irgendeiner Weise umgebaut; sei es nun der einzelne Scheibenwischer – wofür präzises Schneiden und Schweißen sowie eine selbst gebaute Verbindung nötig war – oder das Zuschneiden der Seitenfenster aus Acryl, für die er die Glasfenster eines anderen Wagens als Schablone genutzt hat. Dabei spielt für Chris nicht der niedrige Preis eine Rolle. Er sieht Potenzial in verschiedensten Materialien und benutzt einfach das, was er herumliegen hat. Sein Hobby begann vor der Existenz von 3D-Druckern, und obwohl er mit der richtigen Technik heutzutage ganz einfach ein Verbindungsteil drucken könnte, würde Chris wahrscheinlich trotzdem nach einem richtigen Teil suchen. Weil das viel besser zu ihm passt.

Seemeilen-Sammler: Chris scherzt selbst, dass seine Porsche wahrscheinlich mehr Strecke in Übersee-Containern zurückgelegt haben als auf der Straße.

Der beeindruckendste Teil seines Autos ist jedoch kein typisches Merkmal, auf das jeder Auto-Fan steht. Es sind viel eher die clever recycelten Materialien, die die einzigartigen Details ausmachen. Der hölzerne Schaltknauf seines 917 stammt aus einem Haushaltswarengeschäft. Jury hat ihn für wenige Euro gekauft. Dass er besondere Stoffbezüge verwendet, die seinen spezialangefertigten Porsche von denen unterscheiden, deren Besitzer sich lediglich im offiziellen Konfigurationskatalog bedienen, ist für den Modedesigner selbstverständlich. Ein Flugzeuganschnallgurt sichert das Ersatzrad. Der Teppich stammt aus einem Baumarkt in Deutschland. Die charakteristischen Gurte, die Motorhaube und Kofferraum geschlossen halten, hat er aus einem deutschen Bundeswehrladen – sie stammen ursprünglich aus Polen, wo sie im Zweiten Weltkrieg als Zurrgurte verwendet wurden. Das Auto hat sogar einen Getränkehalter – Donnerwetter! Er besteht aus einer Flaschenhalterung für Fahrräder, die Chris zwischen die Sitze geschraubt hat.

Das auffälligste Detail des Porsche – das runde Symbol der Royal Air Force, das das »O« auf dem Heckschriftzug ersetzt – zeigt auch, dass Chris einen Sinn für Humor hat. Und es gibt dem Auto seinen Spitznamen. »Mod Rod« als Symbiose der britischen Subkultur der »Mods« und Hot Rod hat den gleichen Charme wie der Name von Jurys eigener Modelinie AHKS. Das steht für »All Hail King Scally«, ein weiterer Scherz. »Nur ein kleines bisschen frech«, sagt Chris. Schon wegen der religiösen Anspielung auf »All Hail King Jesus«. Den Insider verstehen wahrscheinlich nur diejenigen, die wie er mit der Musik der früh-90er Madchester-Musikszene aufgewachsen sind. Tatsächlich ist der Underground-Musikstil Madchester (eng an die Stadt Manchester gebunden) nur schwer zu erklären. Scally heißt übersetzt »schuppig« oder im Slang auch »Strolch«. Die Fans des Madchester nannten sich so. Und Chris liebte diese Musik, die für einen Moment vorherrschend war in Britannien, ehe der Britpop mit Oasis aufkam. Bei solchen kulturellen Wurzeln ist klar, warum kein Teil aus dem 3D-Drucker kommt, oder?

Bisher sind alle Kleidungsstücke, die Chris für AHKS genäht hat – größtenteils Jacken, ein paar Hosen und einige T-Shirts mit Logo – maßgeschneiderte Unikate, die nur einer Person passen: Chris Jury.

Wer nun der Meinung ist, dass dieser »Scally« einen wunderbaren Porsche zu Frankensteins Monster gemacht hat, dem sei gesagt, dass der andere 912, »das rote Auto«, natürlich auch noch in Chris Jurys Garage steht. Es wird gerade voller Hingabe restauriert, schwört Jury, und größtenteils mit NOS-Teilen ausgestattet. Na ja, vielleicht wird hier und da auch etwas modifiziert. Chris zuckt mit den Schultern und grinst: »Abwarten und Tee trinken.«