Porsche in Ost und WestIn einem Land vor unserer Zeit

Christian Steiger

 · 23.03.2023

Porsche in Ost und West: In einem Land vor unserer ZeitFoto: Anatole Lapine/Porsche-Archiv
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Eine Reise in Ferdinand Porsches Heimatort ist in den 70ern ein Abenteuer: Das frühere Maffersdorf heißt jetzt Vratislavice und liegt in der abgeriegelten CSSR. Porsche-Chefdesigner Anatole Lapine fährt 1975 trotzdem hin. Und hat zum Glück seine Leica dabei.

Erste Adresse Ein Porsche 911 vor dem Geburtshaus Porsches, das wirkt 1975 fast surreal.
Foto: Anatole Lapine/Porsche-Archiv

Am Ende lässt er sich Erde in die beiden Wäschebeutel des Interconti Praha schaufeln, Heimaterde vom Haus der Porsches. Der Werkstattmeister greift sich dafür im Vorbeigehen eine Konservendose vom Müllhaufen und erzählt schmutzige Witze, aber er erfüllt den Wunsch des Mannes, der im Porsche 911 vor seine Werkstatt gefahren ist. Es ist »die Geschichte des namenlosen Porsche-Fahrers, der im Jahr des Jubiläums nach Böhmen fuhr, um das Geburtshaus des Professors zu sehen«, so steht es 1975 in der Porsche-Hauszeitschrift »Christophorus«.

Das Jubiläum ist Ferdinand Porsches 100. Geburtstag. Die Fotos sind schwarzweiß und passen zum ungewohnt düsteren Roadmovie auf vier Seiten. Vielleicht ist es auch deshalb eine Geschichte, die vielen Porsche-Fans in Erinnerung bleibt. Es sind nicht nur die verwitterten Fassaden und der damals neue 911, der wie ein Ding aus einer anderen Welt vor dem Ortsschild von Vratislavice nad Nisou steht. Es ist auch der Autor, der mit seinen russischen Sprachkenntnissen und dem amerikanischen Pass fasziniert. Und natürlich mit dem Stil, in dem er schreibt. Über die alte Frau in den schwarzen Kleidern etwa, die er auf der Hauptstraße des früheren Maffersdorf nach dem Haus der Porsches fragt. »Ich darf sie fotografieren und erfahre, daß ihr Mann vor zwei Monaten gestorben ist. Das Gesicht, die Augen, sind Vergangenheit. Die Vergänglichkeit des Menschen wird mir deutlich, und dennoch bringt mich der 100. Geburtstag eines anderen Menschen nach Maffersdorf.«

»Sentimental Journey« nennt er seine Geschichte im »Christophorus«, wie den Jazzklassiker aus den 40ern. Die schwarzweißen Fotos passen dazu.

Wer ist er, der Mann im 911? Ein Lyriker, ein Literat, ein Journalist, der einen Testwagen durchs Alltagsgrau der tschechoslowakischen Provinz lenkt? Anruf im Porsche-Archiv, 45 Jahre später. Tatsächlich, seine Fotos sind noch da. Und sie tragen einen Copyright-Vermerk. Kein Schreiber ist es, der im April 1975 nach Maffersdorf reist, sondern ein Gestalter. Der Mann, der den 911 zum G-Modell gemacht hat, reist im eigenen Entwurf: Porsche-Chefdesigner Anatole Lapine, damals 45, geboren in Riga, in den 50ern ausgewandert nach Detroit, Mitte der 60er von General Motors zu Opel geschickt und kurz darauf von Porsche abgeworben.

Lapine ist 2012 gestorben, auch seine Frau Jeanette lebt nicht mehr, doch sein namenloser Text erzählt mehr von ihm, als er 1975 anscheinend von sich preisgeben will. Alte Fotos zeigen ihn oft in Macho-Pose mit muskulös gekreuzten Armen oder den Händen am Ledergürtel seiner Jeans, aber auf dem Weg nach Maffersdorf entpuppt er sich als anonymer Melancholiker, der uns ein Zeitdokument von sentimentaler Schönheit hinterlässt. So heißt die Geschichte im »Christophorus« auch, »Sentimental Journey«, wie Doris Days Jazzklassiker aus den 40ern.

Vor allem ist es 1975 eine mühsame Reise. Würde der Spurensucher heute in Stuttgart losfahren, wäre er nach sechs Stunden in Prag. Er bräuchte dann noch mal eine gute Stunde bis nach Vratislavice, dem Stadtteil von Liberec im Norden der kleinen Republik, wo er vor dem restaurierten Wohnhaus der Porsches in der Straße Tanvaldská 38 einparken könnte. Damals fährt er am ersten Tag bis München, wo er sich in einem Reisebüro in der Innenstadt die Formulare für das Einreisevisum beschafft. Am nächsten Morgen steht er um 8.30 Uhr »als einer von vielen« vor dem Eingang der Wiener ČSSR-Botschaft in der Nähe des Schlosses Schönbrunn, wo er einem tschechischen Beamten neben seinem US-Reisepass auch noch zwei Passfotos überlassen muss. Es ist 11 Uhr, als er schließlich sein Visum bekommt.

Der Empfang ist herzlich: Der Werkstattmeister schickt seinen Lehrling mit zwei Körben zum Bierholen, als der Mann mit dem Porsche kommt.

Bei Kleinhaugsdorf passiert er den eisernen Vorhang, was sich als surrealer Akt erweist: »Die letzte Tankstelle vor der Grenze hat kein Benzin für mich. Also Umkehr zur vorletzten Tankstelle, dann erfolgt der Grenzübergang. Salutierende Posten, massive Schlagbäume, die sich nur in Zeitlupe heben. Kopfschütteln des Hauptmanns auf der anderen Seite, Grund: kein D-Schild am Porsche. Umkehr. Erneutes Bewegen der Schlagbäume. Die Tankstelle kann mit einem D-Schild aushelfen.« Die Fotos zeigen, dass der Reisende nur flüchtig den Staub von der Motorhaube wischt, bevor er es aufklebt.

Zur Rushhour des diesigen Tages ist er in Prag, wo er im Interconti eincheckt. Das Fünf-Sterne-Hotel der US-Fluggesellschaft Pan Am hat erst im Jahr zuvor eröffnet, sechs Jahre haben sie am Rand der Altstadt daran gebaut. Heute steht der brutalistische Bau des Architekten Karel Filsak unter Denkmalschutz, vor 45 Jahren hält Lapine das kafkaeske Programm des Hotelradios für die Nachwelt fest: Es laufen ungarische Folklore, Frank Sinatra und die Monologe des tschechischen Staatsfunks. Der Portier verkauft tschechische Kronen gegen Westwährung, Lapine vermutet einen Spitzel, der ihm eine Falle stellen will. So sind damals die Zeiten.

Der Mann im staubigen 911 weiß am nächsten Morgen zwar, dass seine Reise nach Norden in Richtung Liberec führt, doch er ahnt nicht, wie Maffersdorf inzwischen heißt. In Turnov, einer kleinen Garnisonsstadt, fragt er im staatlichen Reisebüro Čedok, doch dort »scheint Tagesbefehl zu sein, darüber nichts sagen zu wollen«. Es folgt eine Szene wie aus einem der frühen Miloš-Forman-Filme, in denen das skurrile Personal so lebensecht aussieht: »Ich entdecke an einem der rückwärtigen Schreibtische, weit von der Theke entfernt, einen armamputierten, grauhaarigen Herrn und frage ihn, ob er vielleicht eine Vorkriegskarte dieser Gegend besitze. Er geht und kommt mit einer Karte wieder, die er sehr behutsam entfaltet. Einige Quadrate lösen sich und fallen zu Boden. Ich schreibe auf die Rückseite eines Benzinscheines Maffersdorf. Er hat es, hält den Zeigefinger darauf und vergleicht mit den neuen Karten. Ja, an der Neiße liegt dieses Vratislavice.«

Kurz darauf trifft er die alte Frau in Schwarz und parkt den 911 auf dem Werkstatthof neben einem Škoda MB 100, mit dem sich der Porsche immerhin das Antriebskonzept und das Alter der Konstruktion teilt. SLUŽNY MĚSTA VRATISLAVIC steht über dem Eingang, was Städtische Dienste bedeutet und im Alltagstschechisch »der Komunál« heißt. Wahrscheinlich sind sie in dem Haus, das der 16-jährige Ferdinand Porsche einst elektrifizierte, auch für die städtischen Elektriker zuständig. Die Autowerkstatt im Hinterhof wirbt auf einem Schild für ihren Reifenservice und die Metoda ML, eine im Ostblock weit verbreitete Hohlraumkonservierung.

Er weiß, dass er nach Norden muss, Richtung Liberec. Doch wie Maffersdorf auf Tschechisch heißt, weiß der Reisende nicht.

Die Fassade von Ferdinand Porsches Geburtshaus wäre auch dunkelgrau, wenn Lapine einen Farbfilm in seiner Leica hätte. Nichts, was noch an den großen Sohn erinnert. Aber der Empfang ist herzlich: Der Werkstattmeister schickt den Lehrling mit zwei Körben zum Bierholen, als der Mann aus Deutschland im Büro steht. Dann bitten der Chef und seine zwölf Mechaniker den 911 auf die Hebebühne. »Er wird von unten, dann von innen und abschließend von außen anerkennend, aber auch mit slawischer Skepsis betrachtet. Die vielen PS sind sicherlich unnötig, aber wie vieles, was unnötig ist, trotzdem schön. Normalbenzin? Na ja, eigentlich auch sehr vernünftig.«

Und dann nimmt der Meister die Konservendose und gräbt, erzählt schmutzige Witze und füllt die Wäschebeutel des Interconti. Es ist volkseigene Erde, schreibt der namenlose Porsche-Fahrer, doch sie passe in keinen Fünfjahresplan. Er berichtet von zwölf erhobenen Bierflaschen zum Abschied, vom Schichtwechsel in der Weberei, dem Glitzern und Verschwinden der Neiße im Rückspiegel. Ein Ende wie im Drehbuch. Und der Abspann nennt jetzt auch den Namen des Hauptdarstellers.