Martin Santoro
· 23.03.2023
Westautos gab es in der DDR mehr, als manch einer vermutet. Aber einen Porsche? Den hatte nicht einmal die SED-Führung, dafür aber eine Handwerkerfamilie im Norden Sachsens.
In der »Entwickelten sozialistischen Gesellschaftsordnung« schimmerten Widersprüche wie Risse durch die Ideologie des sich selbst feiernden Arbeiter-und-Bauern-Staates. Sichtbar wurde die Unglaubwürdigkeit etwa im Straßenbild von Rostock bis Dresden, wo sich zwischen Zweitakt-Trabis und Wartburg bisweilen mehr als 10.000 Westautos mit DDR-Kennzeichen tummelten. Die meisten der 17 Millionen DDR-Bürger konnten oder durften jedoch keine Autos des Klassenfeindes besitzen. Wer waren also jene Privilegierten, die in den Genuss kamen, ein Auto von »drüben« zu fahren?
Erich Honecker und seine Minister wurden in verlängerten Volvo und Citroën CX chauffiert. Alexander Schalck-Golodkowski zog die wirtschaftlichen Strippen bei der Besorgung von Westimporten – kommerzielle Koordinierung hieß das im DDR-Jargon. Zugeteilt wurden etwa VW Golf und Mazda 323, meist für VEB-Direktoren im SED-Gefolge. Wer über solvente Westverwandte verfügte, ließ sich über den Katalogservice Genex gegen harte Westwährung mit einem Fiat 128 beschenken – ohne wie sonst die absurd langen Wartezeiten zu erdulden. Doch vereinzelt erfüllte sich mancher DDR-Bürger den Traum vom automobilen Westluxus über verschlungene Pfade. In einem Fall dienten einer sächsischen Familie Kübelwagen und VW Käfer als Steigbügelhalter für ihre lebenslange Freundschaft zu Porsche.
Die nachweislich erste bekannte VW-Werkstatt in der DDR lag nördlich von Leipzig in der Gemeinde Krostitz. Im Ortsteil Krensitz befindet sich heute noch das Gut der Handwerkerdynastie Fromm, die unmittelbar nach Kriegsende ihren Betrieb nahtlos fortsetzten konnte – durch den mutigen Vorstoß der Großmutter. Sie reichte im Jahr 1940 beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW) eine Petition ein, worin sie die Frontbefreiung ihres ältesten Sohnes Robert forderte, da ihre anderen fünf Buben bereits an der Front dienten. Das OKW willigte unter einer Bedingung ein und verfügte sinngemäß: In der 1877 von Anton Fromm als Schmiede gegründeten Autowerkstatt seien fortan ausschließlich Kübel- (VW Typ 82) und Schwimmwagen (Typ 166) sowie weitere Militärfahrzeuge für den Fronteinsatz instand zu setzen. Erleichtert fügten sich die Fromms, was Sohn Robert weit über die Kriegsjahre hinaus ein sicheres Auskommen sowie ein langes Leben bescheren sollte.
Unter sowjetischer Besatzung hielten sich die Fromms zunächst mit Reparaturen aller Art über Wasser. Sie verwerteten auch zurückgelassene Wehrmachts-Kübel und -Schwimmer, die sie mit DKW-Karosserien einem zivilen Zweck zuführten. Weil der 1949 eingesetzte SED-Apparat Roberts Plan von einer Vertragswerkstatt für sozialistische Fahrzeuge ablehnte, machte der Sachse aus seiner Not eine Tugend –
und konzentrierte sich erneut auf die ihm vertraute Volkswagen-Technik. Die Genehmigung zum VW-Spezialbetrieb im Jahr 1963 wurde unter neuer Regentschaft wieder streng reglementiert: Die Annahme von Autos aus der Produktion des Proletariats war strikt untersagt – Direktkontakt zu Trabant- und Wartburg-Kunden unerwünscht.
Im Westen des geteilten Landes lief seinerzeit die Produktion des VW Käfer auf Hochtouren. Roberts Sohn Peter, der in vierter Generation den väterlichen Betrieb verstärkte, berichtete zu Lebzeiten von der Beliebtheit des Volkswagens in der Sowjetischen Besatzungszone: »Vor der Mauer bekamen die Leute im Osten noch genau mit, was drüben los war. Die im Westen konnten den VW kaufen, für den Opa im Krieg seinen letzten Pfennig wegsparte. Im Osten waren sie deshalb gefrustet, und es gab ja auch fast nichts.«
Dennoch erreichte eine beträchtliche Anzahl Käfer die DDR. Erbschaften, »Blaue Kacheln« (der 100-D-Mark-Schein) oder gute Beziehungen ermöglichten einer kleinen DDR-Elite, sich mit dem Verkaufsschlager des Klassenfeindes zu schmücken. Das System tolerierte den Import, vor allem um an Devisen zu kommen. Zahlreiche überlieferte Zulassungspapiere beurkunden als Erst- und Zweibesitzer Personen aus Wirtschaft, Gesundheitswesen und Staatsorganen. Ein Kundenkreis, der auch die Fromms recht gut ernährte.
Im Schnitt hatten sie monatlich 50 Stammkunden plus Laufkundschaft und Käfer-Fahrer aus dem Westen. »Die Westler nutzten Verwandtschaftsbesuche für Autoreparaturen, die bei uns viel billiger waren«, so Peter Fromm. »Benötigte Neuteile brachten sie praktischerweise gleich mit. Was als kaputt ausgebaut wurde, legte mein Vater wohlweislich für spätere Fälle auf Lager.«
Reparatur- und Verschleißteile waren rar gesät. In den 50er-Jahren erreichten mehrere Kontingente aus Wolfsburg die DDR. »Das Material wurde staatlich verwaltet und den wenigen VW-Betrieben zugewiesen. Das reichte aber hinten und vorne nicht, um die Nachfrage zu befriedigen.« Nach dem Mauerbau spitzte sich die Lage weiter zu. Die Materialknappheit beflügelte das Improvisationstalent der Handwerker weiter – wie im Fall der Fromms, die Auspuffanlagen mitunter an der eigenen Werkbank herstellten.
Der im August 1961 errichtete »Antiimperialistische Schutzwall« eröffnete eine makabre neue Wertstoffquelle: die von der Staatssicherheit lückenlos überwachten Transitstrecken von und nach Westdeutschland und Westberlin. Die Stasi ließ auf den mit hartem Beton gepflasterten Autobahnen verunfallte oder defekte Westautos systematisch einsammeln und überstellte sie sogenannten bezirksgebundenen staatlichen Vermittlungskontoren. Dort gesellte sich das Strandgut zu beschlagnahmten Westautos aus Kriminalfällen wie Republikflucht. Lediglich autorisierte Kreise erhielten Zutritt zu Schatzkammern mit Westgütern. Als Handwerksmeister verfügte Robert Fromm über die nötigen Papiere. Jeden Bezugswunsch galt es schriftlich zu beantragen. »Es gab lange Wartelisten, weshalb wir gleich mehrere VW vormerken ließen. Die Wartezeit betrug bis zu fünf Jahre«, erinnert sich Peters Witwe Elke Fromm mit Blick auf sorgsam aufbewahrte, vergilbte Angebote und Rechnungen der »VEB Maschinen- und Materialreserven« in Halle und Leipzig. 1965 kostete etwa eine verunfallte Käfer-Karosserie 100 Ost-Mark, ein Unfallrahmen kam auf 50 DDR-Mark. Acht Jahre später war ein gebrauchter 57er Käfer ganze 5.854 Mark wert.
Ein Glücksfall ereignete sich 1966, als Peter Fromm zum wiederholten Male beim Leipziger Kontor anrief: Wenn Interesse bestünde, könne er ein total demoliertes Westauto mit Heckmotor haben, hieß es. Rasch machten sich Vater und Sohn auf, und vor Ort bot sich ihnen ein schauriger, aber zugleich sensationeller Anblick: ein vorn wie hinten stark beschädigter Porsche – ein B-Modell von 1959. Ohne lange zu zögern, einigte man sich auf einen Kaufpreis weit unter 1.000 Mark. »Ich weiß noch, wie Peter sich gefreut hat. Ein Porsche, wo gab es das bei uns schon. Wir kannten damals niemanden, der einen fuhr. Zwei Jahre lang reparierte mein Mann den Wagen im Garten. Ich war fasziniert davon, wie Peter mit meinem Schwiegervater eine Art Streckbank baute, um den Porsche wieder auseinanderzuziehen. Peter hat jedes Blechteil selbst angefertigt, er war handwerklich äußerst geschickt und arbeitete täglich nach Feierabend daran. Nur im Winter pausierte er wegen der Kälte«, weiß die pensionierte Lehrerin für Russisch und Geschichte zu berichten. Als der 356er kam, war Elke 28 Jahre alt und trat gerade ihre Lehrerstelle in Krostitz an. Peter verließ die Werkstatt drei Jahre später aus gesundheitlichen Gründen und startete sein Studium der Museologie in Leipzig. Von 1972 bis 1990 war er Assistent im Kreismuseum Delitzsch. Nach der Wende wurde er zum Amtsleiter für Naturschutz und Denkmalpflege in die Kreisverwaltung gewählt. Bereits zu DDR-Zeiten engagierte sich Peter stark für die Natur, war kreativer Kunstmaler, enthusiastischer Automobilist und Motorsportler. Beim regelmäßigen Nachmittagsstammtisch im Leipziger »Café Corso« wurde es unter Freunden gern politisch, weswegen gelegentlich Spitzel der Staatssicherheit den Kaffeeklatsch belauschten. In seiner mehr als 100 Seiten dicken Stasi-Akte durfte Peter nach dem Mauerfall diese Zusammenkünfte als »Bildung eines konspirativen Kreises« nachlesen, und er sei der Anführer gewesen.
Bizarr ist auch Elke Fromms Vermerk, die wegen diverser Besorgungen den dann schon in Porsche Signalgelb lackierten 356er vor der SED-Kreisleitung abstellte. Sie hatte es eilig und nutzte frech einen freien Parkplatz des obersten Parteiorgans im Landkreis. Nach einer Stunde kehrte sie zurück und fuhr unbehelligt wieder fort. Drei Wochen später besuchte ein Mitarbeiter dieser Behörde eine Lehrerversammlung in Krostiz, dem Elkes Porsche auf dem Schulhof aufgefallen war. Er platzte in die Versammlung und rief mit hochrotem Kopf, wem denn das gelbe Westauto gehöre. Elke sagte ganz ruhig, es sei ihres, und fragte, was denn damit wäre. Die Antwort: Sie hätte widerrechtlich einen Dienstparkplatz genutzt und damit alle brüskiert. Was folgte, war eine Vorladung beim obersten Chef des SED-Organs. Zu ihrer offiziellen Einladung parkte sie den Porsche wieder auf dem SED-Dienstgelände und erfuhr vom sehr besonnenen Parteiführer, was sich Wochen zuvor im Gebäude ereignete: Die Mitarbeiter hatten Alarm geschlagen, als sie den knalligen Porsche vor ihrer Haustür erblickten. Man vermutete Spionage oder einen Sabotageakt, weshalb alles durchsucht worden wäre. Nachdem Elke die Umstände erklärt hatte, erhielt sie lediglich eine mündliche Verwarnung wegen unerlaubten Parkens.
Auch Urlaubsreisen ins benachbarte Ausland wurden akribisch in den Akten vermerkt. Die mehrfachen Touren mit dem Porsche nach Bulgarien interpretierte ein inoffizieller Mitarbeiter (IM) in seinem Protokoll als die Planung eines möglichen Fluchtversuchs. Es läge nahe, dass Peter mit einem – wortwörtlich – »Nioprienanzug« über das Schwarze Meer in die Türkei flüchten könnte.
Nicht aus politischen, sondern aus ganz praktischen Gründen trennten sich die Fromms vom ersten Zuffenhausener Sportwagen. Wegen Familienzuwachs wurde ein größeres Auto nötig, weshalb sie 1976 auf einen roten Käfer umsattelten. Der bekam 1988 unverhofft einen rassigen Zweitwagen zur Seite gestellt: einen silbernen Porsche 356 C. Das Coupé gehörte einem Bekannten, der sich für 24.000 DDR-Mark nach langer gemeinsamer Zeit davon trennte. Die Fromms sollte er bis Mitte der 90er-Jahre begleiten. Ihre einstmals gezahlte Kaufsumme erhielten sie in D-Mark aufgewertet. Den Käfer fuhren sie noch bis 1997. Oft wurden sie gefragt, ob sie sich denn kein modernes Auto leisten könnten. Vor der Wende hatten die gleichen Leute neidisch auf ihre Westwagen geschaut und so manche absurde Bemerkung geäußert. Aber auch das C-Modell sollte nicht ihr letzter Porsche gewesen sein. Nach 2000 freundete sich Peter mit einem 911 SC an, baute ihn radikal zur Sportversion ohne Straßenzulassung um und führte ihn regelmäßig am Lausitzring aus. Für den Alltag legten sie sich erst ein mintgrünes 968er Cabriolet zu, dann einen 76er 911 Targa.
Jetzt ist Peter nicht mehr, und auch der letzte Porsche hat die Fromms verlassen. Dafür sind von den 356ern noch Radkappen, eine Lenkstange und weitere Ersatzteile in Elkes Obhut. Und auch davon gedenkt sich die lebhafte Dame zu trennen: Ihr genügen zur Freude die zahllosen Erinnerungen an ihren Mann und ihrer beider Leidenschaft zu Porsche.