Porsche-DNADie Hüter der Träume

Thomas Fuths

 · 08.03.2023

Porsche-DNA: Die Hüter der Träume
Foto: Markus Bolsinger
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Der erste 911 aller Zeiten wurde einst von Louise Piëch pilotiert. Heute ruft der Prototyp im Porsche Museum Erinnerungen an die Porsche-Tochter wach.

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Foto: Markus Bolsinger, Historisches Archiv Porsche AG (2)

Das letzte Licht des Tages erreicht die Fassaden des Porsche Museums in Stuttgart-Zuffenhausen. Draußen rauscht der Verkehr vorbei. Oben im Gebäude, das an dieser Stelle freitragend ohne eine Säule gewagte 45 Meter der Stadt entgegenschwebt, zeichnet sich in einer schmalen Glasfläche schemenhaft ein Porsche 911 ab. Um was für einen Typ es sich genau handelt, verschleiern zunächst die Entfernung und die Dämmerung. Er ist eines von rund 600 Fahrzeugen der größten Porsche-Sammlung der Welt. Sie ist so groß, dass nicht einmal die 150.000 Kubikmeter Raum in diesem gigantischen Bauwerk reichen, sie zu beherbergen. Viele Exponate sind deshalb in eine weitere Halle vor den Toren der Stadt ausgelagert, bis sie für ihren nächsten Einsatz im Museum oder bei einem der Klassik-Events rund um den Globus erneut gestartet werden. Alle Porsche dieser Sammlung sind naturgemäß von hohem Wert, einige aber unbezahlbar. So wie der oben im Museum hinter Glas geparkte 911. Es ist der Ur-Turbo. Ein einmal gebauter Prototyp. Das Geschenk eines Bruders an seine Schwester. Für Autos wie dieses wurde das Porsche Museum gebaut. Es ist ein architektonisches Denkmal. Und eine Zeitschleife; wer sie betritt, erlebt Geschichten von einst, als wären sie erst gestern passiert.

Die luftigen Hallen des Porsche Museums werden von einem 7.341 Kilogramm schweren Stahlskelett getragen – das ist mehr verbauter Stahl als im Pariser Eiffelturm.

Der Ur-Turbo ist Teil einer solchen Geschichte. Fahr-, fühl- und riechbar im Hier und Jetzt und doch bereits 46 Jahre alt. Konstruiert und gefahren von Menschen, die Porsche prägten und heute größtenteils nicht mehr unter uns sind. Ferdinand alias »Ferry« Porsche, seit 1972 Aufsichtsratsvorsitzender der Porsche AG, ist einer davon. Wir schreiben das Jahr 1973. Die neuen 150 bis 210 PS starken 911-G-Modelle sind die Stars auf der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt. Doch Ferry Porsche, der in wenigen Tagen 64 Jahre alt wird, schwebt bereits Größeres vor: ein mit Turboaufladung befeuerter 911 – eine Technik aus dem Motorsport. Gerade hatte der aufgeladene und 1.200 PS starke Porsche 917/30 die US-amerikanische CanAm-Serie gewonnen. Ferry Porsche, Vorstandssprecher Ernst Fuhrmann und Motoren-Papst Hans Mezger sind sich einig, dass nun die Serie reif sei für den Turbo. Und so stellen sie in Frankfurt, ein wenig abseits auf einer eigenen kleinen IAA-Rundbühne, eine Studie des künftigen 911 Turbo aus. Der allerdings sieht eher aus wie ein 911 Carrera RS, von dem er auch den Heckflügel und die Stoßfänger übernommen hat. Und unter der Motorhaube kauert noch ein Saugmotor; die komplette Aufladung ist nur ein Modell aus Holz statt aus echten Bauteilen hergestellt. Eine Studie eben.

Doch hinter den Kulissen arbeitet das Mezger-Team längst auf Hochtouren, konstruiert echte aufgeladene Sechszylinder. Unter der Leitung von Dirk Söderberg entwickeln die Designer parallel die Optik des künftig stärksten 911, der einen völlig neuen Heckflügel, homogener als bei der Studie ausgestellte Kotflügel und die Stoßfänger der neuen G-Modelle bekommen soll. Auf dem Weg zur Serie wird es 1974.

Der 70. Geburtstag von Louise Piëch, die in der Porsche-Villa im österreichischen Dellach am Wörthersee lebt, rückt näher. Die geborene Porsche ist die einzige Tochter des automobilen Urgesteins Ferdiand Porsche senior, bis 1971 die Chefin der Porsche Holding in Österreich und Mutter dreier Söhne. Einer von ihnen teilt sich den Vornamen Ferdinand und große Visionen mit seinem Großvater und dem Onkel. Doch am 29. August 1974 auf dem Geburtstag der Mutter ist der spätere Konzernchef Ferdinand Piëch trotz seines Audi-Jobs als Hauptabteilungsleiter für Sonderaufgaben einfach nur ein 34-jähriger Sohn. Es entstehen zahlreiche Bilder bei diesem 70. Geburtstag am Wörthersee. Ferdinand Piëch ist auf diesen Fotos nicht zu sehen. Wohl aber Louise, Ferry und Ernst Fuhrmann. Die beiden Männer erläutern dem Geburtstagskind seinen neuen Wagen. Mit dem ersten 911 Turbo erhält Lousie Piëch mehr als ein Geschenk – sie fährt fortan die Keimzelle eines frühen Supersportwagens und späteren Welterfolgs.

Noch ist nicht der 3,0-Turbo-Sechszylinder an Bord, wie ihn 1975 der Serienwagen bekommen wird. Die Motorenentwickler um Hans Mezger haben vielmehr einem 2,7-Liter-Motor des akuellen G-Modells per Turbolader mehr Dampf in die Brennräume geschickt. 240 PS sind es, die diesen ersten Turbo sowohl am legendären Carrera 2.7 RS als auch am Carrera RS 3.0 vorbeiziehen lassen. Außen unübersehbar, sorgt bereits der spätere Serien-Heckflügel für den notwendigen Abtrieb an der Hinterachse. Die Karosserie selbst ist allerdings noch schmal und zeigt nicht die ausgestellten Kotflügel der stets breiten Turbokarosserie. Wobei es weitere schmale »Turbo« geben wird: Kein Geringerer als Ernst Fuhrmann schwört auf die schmale Karosserie, die pures Understatement bietet und eine um 10 km/h höhere Höchstgeschwindigkeit ermöglicht. Innen zeigt der Piëch-Turbo mit seinem roten Leder und dem blauroten Schottenkaro einen hohen Grad der Veredelung.

Auf dem Handschuhfachdeckel gibt es ein kleines Messingschild. Eingraviert: »LP« / »Porsche-Turbo No 1« / »Stuttgart-Zuffenhausen« / »29. August 1974«. Die Chefin – wie sie in der österreichischen Porsche Holding genannt wird, diktiert zudem auch im Alter noch gerne ihre zu schreibende Korrespondenz auf Kassette. Eigens dafür hat Ferry Porsche oder ein anderer guter Geist ihr das »Blaupunkt Bamberg electronic« mit separatem »Programmierteil« für sechs Stationstasten und »Mikrofon für Diktataufnahmen mit Start-Stop-Fernsteuerung« einbauen lassen.

Auf seinem Weg durch die Zeit bekommt der 911 Turbo No 1 irgendwann den 3,0-Liter-Serienmotor des 1974 auf dem Pariser Salon vorgestellten und im Frühjahr 1975 eingeführten 911 Turbo 3.0 (930 Turbo) implantiert. Aus 2.994 cm³ holt der Sechszylinder-Turbo 260 PS und ein Drehmoment von 343 Netwonmetern. Diese Kraft setzt nicht kontinuerlich zunehmend ein, sondern kommt wie ein Faustschlag in den Rücken. Der 930 Turbo schafft mit dem Motor locker 250 km/h. Wie schnell der Piëch-Turbo mit diesem Motor fährt, ist nicht verbrieft. Und heute, 2020, verbietet sich der Test mit einem Unikat wie diesem. Doch von Ernst Fuhrmann sind die zusätzlichen 10 km/h dank schlanker Karosserie verbrieft; der Tacho des 911 Turbo No 1 reicht auf jeden Fall bis 300 km/h.

Louise Piëch ahnte damals vielleicht, dass dieser Wagen –
es war nicht ihr letzter 911 – sie eines Tages überleben würde. Was sie nicht ahnen konnte, war die Tatsache, dass ihr 911 Turbo Jahrzehnte später eines der wichtigsten Fahrzeuge des wohl weltweit erfolgreichsten Sportwagen-Museums werden sollte. »Diejenigen, die das Glück haben, aus einem Traum ein Geschäft zu machen, schulden es der Welt, die Hüter dieser Träume zu sein,« hat Ferry Porsche einst gesagt. Natürlich wird er dabei vor Augen gehabt haben, dass Porsche weiter bestehen und neue Traumwagen entwickeln sollte. Doch vielleicht dachte er auch an ein Museum, in dem die automobilen Träume die Zeit überdauern würden. Es entstand rund zwei Jahrzehnte nach dem Tod der zwei Porsche-Geschwister. In ihm lebt vieles von ihnen weiter. Wer dort als Besucher demnächst den 911 Turbo No 1 entdeckt, wird vielleicht an die beiden und die Gäste im Garten denken und imaginär hören können, wie sie sich unterhielten über die Zukunft, damals, 1974, im August am Wörthersee.


Foto: Markus Bolsinger, Historisches Archiv Porsche AG (2)

TECHNISCHE DATEN

Porsche 911 Turbo No 1

  • Motor: Sechszylinder-Boxer mit Turbolader
  • Hubraum Motor 1: 2.687 cm³
  • Max. Leistung Motor :1 240 PS / Drehzahl unbekannt
  • Hubraum Motor 2: 2.994 cm³
  • Max. Leistung Motor 2: 260 PS bei 5.500 U/min
  • Max. Drehmoment Motor 2: 343 Nm bei 4.000 U/min
  • Vmax mit Motor 2: mehr als 250 km/h