Christoph Reifenrath
· 04.11.2022
Vor 25 Jahren kam der Porsche 996 auf den Markt. Mit dem ersten wassergekühlten 911 und dem konstruktiv nahezu baugleichen Boxster machte sich Porsche auf den Weg in die Zukunft. Zusammen mit dem Designer Grant Larson tauchen wir in die 996-Geschichte ein.
Aus heutiger Sicht erscheinen die Ereignisse zu Beginn der 1990er-Jahre wie ein sehr fernes Donner-grollen. Schließlich ist Porsche seit Jahren der große Gewinnbringer im Volkswagen-Konzern. Der Umsatz im Geschäftsjahr 2021 erreichte 33,1 Milliarden Euro, 15 Prozent mehr als im Vorjahr. Weltweit wurden 301.915 Fahrzeuge ausgeliefert, mehr als jemals zuvor. Die operative Rendite lag bei 16 Prozent. Mehr noch: In den ersten sechs Monaten 2022 hat die Porsche AG Umsatzrendite, Umsatz und operatives Ergebnis erneut deutlich steigern können. Der baldige Börsengang ist nun beschlossene Sache. Experten schätzen den Wert des Unternehmens auf 60 bis 80 Milliarden Euro; der Parkettgang könnte damit einer der größten in Europa werden.
Doch das wäre vielleicht nie die nun greifbare Realität geworden, wenn Porsche in den 90er-Jahren nicht den 911 neu gedacht und parallel den Boxster erfunden hätte. 2021 wurde der Boxster 25. 2022 feiert nun der damals neue 911 alias 996 den 25. Geburtstag. Porsche Klassik traf sich mit dem Porsche-Designer Grant Larson, um die Zeit der Revolution bei Porsche noch einmal Revue passieren zu lassen. Der Amerikaner Larson, der 1989 mit 32 Jahren von Audi kommend ins Unternehmen eintrat, erlebte seinerzeit das Donnergrollen hautnah mit. Larson lebt bis heute seinen Traumjob – aktuell als Direktor Sonderprojekte. Der in Montana geborene und in Wisconsin aufgewachsene Kreative studierte am Institute of Art and Design in Milwaukee und am ArtCenter College of Design in Pasadena. Die Porsche-Karriere von Grant Larson ist ebenso spektakulär wie lang: Er entwarf das Boxster Concept (Detroit 1993, die Serienversion des Boxster (1996) und damit den Vorderwagen des 996.
Der Carrera GT geht ebenso auf sein Konto (2000). Gleiches gilt für den 911 der Generation 997 (2004) und den ikonischen 911 Sport Classic (2009) derselben Generation, den 935-Rennwagen (2018), den 911 Targa 4S Heritage Design Edition (2020) und den aktuellen 911 Sport Classic (2022). Zu Beginn der 90er aber sind die Sorgen in der Stuttgarter Sportwagenschmiede erdrückend: Zu hohe Produktionskosten, massiv einbrechende Verkaufszahlen, kein Geld für Neuentwicklungen, Machtkämpfe und wechselnde Vorstände. 250 Millionen für die Entwicklung eines neuen viertürigen Modells (989) in den Sand gesetzt. Der Dollar-Kurs geht in den Keller, und das Modellspektrum ist nicht mehr zeitgemäß. Es droht die Übernahme durch einen der großen Autokonzerne.
Die Rettung in höchster Not bringt die gemeinsame Entwicklung sowie die wie skizziert nahezu zeitgleiche Einführung des Porsche Boxster im Jahr 1996 und die Vorstellung der fünften 911-Generation (996) im Jahr 1997. »Das hat das gesamte Team beflügelt. Nach all den Unsicherheiten während der frühen 90er-Jahre hatten wir mit der Entscheidung für die parallele Entwicklung des Boxster 986 und des 996 wieder ein klares Ziel vor Augen. Wir waren uns sicher, Porsche so wieder auf Erfolgskurs bringen zu können«, sagt Larson. Neben Wendelin Wiedeking, damals Vorstand Produktion und Materialwirtschaft, sowie Dieter Laxy, Vorstand Vertrieb, ist auch Horst Marchart, Vorstand Forschung und Entwicklung, maßgeblich an der Neuausrichtung beteiligt.
Es werden Entwicklungsteams gebildet, die gleichzeitig für beide Fahrzeuge zuständig sind. In der Entwicklung und im Einkauf wurden für die Bauteile fiktive Preisziele festgelegt, um die gewünschten Herstellungskosten sicher zu erreichen. Tatsächlich teilt sich der Boxster der ersten Generation den gesamten Vorderwagen, die Türen und zahlreiche weitere Bauteile mit dem 996. Die Kosten sollen dadurch um 30 Prozent sinken. »Jede Abteilung, auch das Design, musste und wollte dazu seinen Beitrag leisten«, erinnert sich Larson. »Wir entwickelten das Scheinwerfermodul mit fünf Funktionen − Abblendlicht, Fernlicht, Standlicht, Nebelscheinwerfer
und zu Beginn eben orangefarbene Blinker − in einem Gehäuse, dadurch sehr günstig zu produzieren und zudem blitzschnell einzubauen. Und Sinn machte das natürlich nur, wenn wir die Lösung auch in beiden Fahrzeugen umsetzten.« Insgesamt sind drastisch reduzierte Entwicklungs-, Produktions- und Lagerhaltungskosten für beide Modellreihen die Folge. »Völlig geräuschlos ging die geforderte Teamarbeit aber gerade im Kreativbereich natürlich nicht ab«, schmunzelt Larson im Rückblick und spielt damit auf die Zusammenarbeit mit einem damaligen Kollegen aus Japan an. »Wir Designer haben nun mal – trotz aller Kompromissbereitschaft – sehr klare Vorstellungen, wie welche Linie, welches Detail aussehen sollte. Und diese Überzeugungen waren durchaus nicht immer deckungsgleich.« Am Ende aber gab es auch hier eine Lösung.
Fakt ist: Die neueste, bis dahin größte Ausführung des Kultsportlers 911 präsentiert sich 1997 als 996 vor allem im Front- und Heckbereich mit einer völlig neuen, aerodynamischen Linienführung (cw-Wert: 0,30). Die auffälligsten Designmerkmale sind jedoch, wie skizziert, die Frontscheinwerfer mit den integrierten Blinkern – erst umstritten, dann gern von anderen Herstellern kopiert. Erstmals schlägt ein wassergekühltes Herz im Heck des ikonischen Sportwagens aus Zuffenhausen. Dank Vierventiltechnik leistet der nun 300 PS und setzt in puncto Emission, Geräusch und Verbrauch Maßstäbe für die Zukunft. Auch der Fahrkomfort spielt neben den typisch sportlichen Eigenschaften jetzt eine größere Rolle. Im Innenraum findet der Fahrer nicht nur mehr Platz, sondern auch ein völlig neues Design vor. Markant sind die Änderungen im Cockpit: Der zentrale Drehzahlmesser dominiert zwar weiterhin als größtes Instrument die Anzeigen, die übrigen vier Instrumente sind aber neu positioniert und halbkreisförmig angeordnet.
Im Oktober 1998 stellt Porsche auf dem Pariser Automobilsalon den 911 Carrera 4 der neuen Generation mit permanentem Allradantrieb als Coupé und Cabriolet vor. Diese Antriebstechnik wird unter anderem durch eine Kardanwelle unterstützt, die das Drehmoment vom Getriebeausgang zum hinteren Achsantrieb leitet. Dazugehörige Kardangelenke verteilen die Antriebskraft auf alle Räder. Die Kraftverteilung organisiert eine Visco-Kupplung, die im Gehäuse des Vorderachsdifferenzials integriert ist. Das äußere Design der Karosserie ist grundsätzlich identisch mit dem der 911 Carrera-Versionen mit Heckantrieb. Zur Serienausstattung gehört das Porsche Stability Management (PSM). Das Sicherheitssystem greift in kritischen Situationen ins Motormanagement ein und stabilisiert das Fahrzeug zusätzlich durch gezielten Bremseingriff.
Ein weiterer Höhepunkt des Modellprogramms ist ab 1999 der 360 PS starke 911 GT3. Er dient er als Basis für die Markenpokale von Porsche und liefert die Initialzündung für den weltweiten Siegeszug des Porsche Kundensports. Höchstgeschwindigkeit: 302 km/h!
Das neue Jahrtausend läutet Porsche mit dem luxuriös ausgestatteten Sondermodell des 911 Carrera 4 ein: dem 911 Millennium. Von außen ist das Sondermodell an der Exklusivlackierung »Violettchromaflair«, 18-Zoll-Rädern im Turbo-Look, hochglanzpolierten Radnabenabdeckungen, verchromten Edelstahl-Auspuffendrohren und dem glänzenden 911-Schriftzug auf dem Motordeckel zu erkennen. Der Innenraum ist in Vollleder und mit Wurzelholzapplikationen ausgestattet. Zahlreiche Details und Zubehöre stammen aus dem Porsche-Exclusive-Programm. Den Sportwagen, der ab Oktober 1999 zu den Händlern rollt, gibt es weltweit nur in 911 Exemplaren. Ab 2000 komplettiert zudem der 420 PS starke Turbo die Modellpalette. Dank dieser Leistung ist er nach dem 911 GT3 das zweite Serienmodell von Porsche, das die 300-km/h-Marke durchbricht. Als Extremsportler wird ab Herbst 2000 zudem der 462 PS starke und 315 km/h schnelle 911 GT2 angeboten, der erstmals serienmäßig mit Keramik-Bremsen verzögert. Dank nun 3,6 statt 3,4 Litern steigt die Leistung der Sauger 2001 parallel zu einem generellen Facelift auf 320 PS. Im Rahmen der umfassenden Überarbeitung verschwinden bei allen Modellen die »Spiegelei-Augen« in ihrer ursprünglichen Form. Und auch im Innenraum sieht vieles deutlich wertiger aus als zuvor. Ab Dezember 2001 steht auch der Targa der 996-Baureihe zur Verfügung. Wie der Vorgänger, besitzt er ein elektrisch betätigtes Glasdach, jetzt mit einer Fläche von mehr
als 1,5 Quadratmetern. Als erster Elfer bietet er zudem eine Heckscheibe zum Aufklappen. Die Fond-Gepäckablage mit 230 Liter Stauvolumen erhält damit einen bequemen Zugang. Wie schon beim Targa Typ 993, besteht das Dach aus drei grün getönten Verbundsicherheitsglas-Elementen. Der Targa erlaubt durch das bewegliche mittlere Dach ein Fahrerlebnis wie mit einem sehr großen Schiebedach. Sobald das Glasdach elektrisch nach innen vor die Heckscheibe fährt, wird ein kleiner Windabweiser aufgestellt. Zum Schutz gegen Kälte oder Sonne kann bei geschlossenem Dach ein elektrisch bedienbares Rollo ausgefahren werden. Als zusätzliche Sicherheitselemente fungieren zwei in Wagenfarbe lackierte und fest mit der Rohkarosserie verschweißte Längsträger aus Stahlblech, die den nötigen Überrollschutz bieten. Erhältlich ist der Targa mit dem 3,6-Liter-Saugmotor und Sechs-Gang-Schaltgetriebe oder mit der Fünf-Gang-Tiptronic S. Der Allradantrieb ist für den 996 Targa nicht vorgesehen. Ebenfalls 2001 debütiert als Coupé und Cabrio der Carrera 4S mit der Karosserie des Turbo. 2003 folgen zudem das Update des 911 GT2 und der neue 911 GT3 RS (jeweils 381 PS)sowie das Sondermodell »40 Jahre 911«.
Im Herbst 2004 präsentiert Porsche den 911 Turbo S. Hinter der Hinterachse des Hochleistungssportwagens liegt der um 30 auf 450 PS leistungsgesteigerte Biturbo-Sechszylinder, der ein Drehmoment von 620 Newtonmetern entwickelt und den Turbo S in 13,6 Sekunden auf Tempo 200 katapultiert. Die Leistungssteigerung erreicht Porsche unter anderem durch größere Turbolader, einen erhöhten Ladedruck, modifizierte Ladeluftkühler und eine überarbeitete Abgasanlage. Das Sechs-Gang-Schaltgetriebe oder die optionale Fünf-Stufen-Tiptronic S sind der erhöhten Leistung angepasst. Der elektronisch geregelte Allradantrieb und die beim 911 Turbo S serienmäßige Porsche-Keramik-Verbundbremse PCCB runden das Performance-Paket ab.
Epilog: Mission erfüllt. Porsche schafft mit dem 996 und dem weitgehend baugleichen Boxster den Turnaround. Für das Geschäftsjahr 1997/98 weist Porsche mit 276,9 Millionen DM den bis dato höchsten Jahresüberschuss der Unternehmensgeschichte aus. Der knackige Mittelmotor-Boxster und der ebenso hochmoderne 996 haben das Unternehmen gerettet. Insgesamt werden 179.163 Modelle der Baureihe 996 und damit fast dreimal mehr als vom Vorgänger produziert. Fest steht zudem: Die bis 2005 gebauten 911er der Generation 996 werden heute mehr und mehr − wie jeder 911 zuvor − zu gesuchten Klassikern. Kaum noch zu bezahlen sind GT2 und GT3. Besonders gefragt und preisstabil sind die sehr standfesten Turbo-Modelle, kleine Geheimtipps immer noch die Targa-, Cabrio- und 4S-Versionen. Doch günstiger werden auch die nicht mehr! :::