Joshua Hildebrand
· 01.09.2021
Audis E-Tron GT ist ein edler Gran Turismo der Neuzeit: schön, schnell, komfortabel. Doch ist er auch effizient genug für längere Strecken? Auf Achse mit 476 Elektro-PS
Seit langem stehen wir mal wieder vor einem echten Gran Turismo, der das Kürzel sogar im Namen trägt. Es ist ein GT der Neuzeit, keiner mit ordentlich Hubraum, keiner mit Benzintank und Auspuff, keiner mit V6- oder V8-Geblubber. Aber einer mit überaus betörender Optik, reisetauglichen Platzverhältnissen, zwei Elektromotoren und Synthesizer-Sound: der Audi E-Tron GT ist optisch gelungen und ein absoluter Hingucker – so viel Subjektivität muss sein.
„GT“-reu seines Namenszusatzes zeigt er zudem wahre Größe und verpasst um nur einen Zentimeter die Fünf-Meter-Liga. Passend dazu ist er ordentliche 1,96 Meter breit – ohne Seitenspiegel wohlgemerkt – und nur knapp 1,40 Meter hoch. Seine flache Karosserielinie, gepaart mit sportlichen Proportionen, großen 21-Zoll-Rädern (optional) und einem langen Radstand ergeben sensationell stimmige Proportionen.
Sowieso ist sein Exterieurdesign nicht nur hübsch, sondern auch effizient: Der niedrige cW-Wert von 0,24 resultiert zum Beispiel aus dem komplett geschlossenen Unterboden und der aktiven Aerodynamik mit schaltbaren Lufteinlässen für Bremsen und Kühler sowie einem mehrstufig ausfahrendem Heckspoiler. Wir wissen ja: Weniger Luftwiderstand bedeutet vor allem bei Elektroautos eine größere Reichweite – und die ist ja schließlich eines der wichtigsten Kaufargumente für E-Autos (dazu gleich mehr). Das betont flache und breite Format des GT zeugt von einem Sportwagen-Charakter, den man auch beim Einstieg in den schicken Innenraum zu spüren bekommt. Rahmenlose Tür auf, „hinunter“ geht‘s in das Audi-typische Cockpit, welches den Fahrer mit einer tiefen Sitzposition und einer breiten Mittelkonsole angemessen integriert. Gran-
Turismo-like wird man hier eher eingepackt als in einem luftigeren A7 beispielsweise, die mit Stoff bezogenen Sportsitze Plus (1.990 Euro) wirken auf den ersten Blick ein wenig pragmatisch, überzeugen aber mit einer tollen Passgenauigkeit und ausgeprägten Sitzwangen. Auf Wunsch bietet Audi auch eine Echtleder/Kunstleder-Kombination an.
Ein Gran Turismo aus dem Lehrbuch
Trotz stark abfallender Dachlinie ist genügend Platz für alle da: vier (maximal fünf) Erwachsene reisen problemlos mit, wenn auch die Kopffreiheit in zweiter Sitzreihe für überdurchschnittlich große Menschen nicht grenzenlos ist. Dafür sitzt es sich auch hier angenehm, zu gefallen wissen vor allem die gut konturierten Sitzflächen und eine angenehm großzügige Beinfreiheit. Haupt-Bedienelement ist ein großes Zentraldisplay, das zusammen mit dem Virtual Cockpit Plus die moderne Cockpit-Landschaft bildet. Das optionale Head-up-Display (1.400 Euro) wirkt unterstützend mit. Sowieso lässt der E-Tron in Sachen Connectivity bereits serienmäßig keine Wünsche offen: Bei permanenter Internetverbindung werden aktuelle Verkehrsinfos in die Navigation mit eingebunden, Statusinformationen von Ladesäulen erleichtern die Planung. Zudem lässt sich der E-Tron auch nachträglich noch upgraden – etwa beim Licht. Serienmäßig sind auch diverse Annehmlichkeiten wie ein DAB+-Radio, USB-C-Anschlüsse, Bluetooth und eine gut funktionierende Sprachbedienung. Wer noch ein paar Extra-Euros investieren möchte, bekommt mit der Phone Box für 500 Euro kabelloses Laden oder für 1.200 Euro noch besseren Bang-&-Olufsen-Sound auf die Ohren.
Angesichts der fortschrittlichen Digitalisierung hat die Touch-Bedienung im GT einen positiven Eindruck hinterlassen. Doch auch über die Lenkradtasten oder via Sprache entstanden nur selten Frustmomente. Zudem hinterlässt die bekannte und einfache Menüstruktur des Infotainments keine Fragen, weil auch wichtige Funktionen auf klassischen Tasten ausgelagert sind – wie etwa die der Klimatisierung.
In Summe stehen den Reisenden knapp 500 Liter Kofferraumvolumen (405 Liter hinten, 85 Liter vorne) zur Verfügung, auch wenn sich das Beladen über die kleine Heckklappe als etwas unpraktisch herausstellt. Zu verschmerzen, wenn sich die Luke wieder schließt und sich das sensationell-gezeichnete Heck in voller Breite präsentiert – die Schokoladenseite des GT.
Wenn der Einstiegspreis an der 100k-Grenze kratzt, sind die Erwartungen an ein Automobil standesgemäß hoch. Selbst 130.000 Euro sind beim E-Tron GT mit diversen Extras kein Problem, wie unser Testwagen eindrucksvoll beweist. Und konfiguriert man das noch stärkere RS-Modell (ab 138.200 Euro) vollends durch, sind auch 180.000 Euro möglich. Dabei sei vorweg geschrieben, dass das 600 PS-starke Topmodell die Kirsche auf der Sahne sein mag, weil der schwächere 60 Quattro mit seinen 476 PS bereits mehr als ausreichend performt. Dass es dabei nicht unbedingt einen Verbrenner-Sound braucht, wurde uns spätestens mit dem Porsche Taycan klar – immerhin Plattform-Bruder des Audi-Stromers (J1) mit einigen Technik-Parallelen: zwei permanent erregte Synchronmaschinen, jeweils eine an Vorder- und Hinterachse, Allradantrieb, hinteres, automatisches Zweiganggetriebe und 800-Volt-Lithium-Ionen-Batterie mit 83,7 kWh (netto) bilden die Rahmenbedingungen für 530 PS Peakleistung und 640 Newtonmeter im Boost.
Optionale Extras machen ihn noch fahraktiver
So gelingt der Spurt auf Tempo 100 mehrfach reproduzierbar in unter fünf Sekunden. Doch nur, wer den Launch-Control-Start nutzt, wird den vom Werk angegebenen Wert von 4,1 Sekunden auch bestätigt bekommen. Weil dann für 2,5 Sekunden 530 PS und 640 Nm Drehmoment parat stehen. Dann beschleunigt der GT wie ein Duracell-Hase in Richtung der 200, legt unter Volllast teils spürbar den zweiten Gang ein und beendet den Vortrieb erst bei 245 km/h (RS: 250 km/h) – wo andere Elektro-Autos schon lange aufgegeben haben. Sensationelle Werte, wenn man sich dabei das Gewicht des GT zu Gemüte führt: 2,3 Tonnen mit Fahrer bringt er auf die Waage, die dank vieler Hightech-Extras auch bei flinkeren Fahrmanövern kaum negativ auffallen. Nicht zuletzt, weil der Schwerpunkt dank tiefliegendem Akku niedrig ist und das Gewichtsverhältnis fast 50:50 beträgt. Dennoch ist es das Dynamikpaket Plus für 4.890 Euro, das ihn noch fahraktiver macht. Dann hat der Hightech-GT eine Hinterachsdifferenzialsperre für eine elektronisch geregelte und vollvariable
Antriebsmomentenverteilung, kombiniert mit gezielten Bremseingriffen, eine Allradlenkung, welche nicht nur beim Rangieren hilft, sondern auch der Kurvendynamik guttut, eine noch direktere Progressivlenkung sowie die elektronische 3-Kammer-Luftfederung mit stufenlos adaptivem Dämpfungssystem an allen vier Rädern. Es ist vor allem der stimmige wie ausgewogene Charakter, der ihn so angenehm fahren lässt. Weil die Luftfederung einen hervorragenden Job macht und man dank hervorragendem Geräuschkomfort das Gefühl bekommt, in einer eigenen Welt unterwegs zu sein. Deutlich sportlicher federt und kurvt der GT in der Drive-Select-Stufe „Dynamic“. Dann lässt vor allem auch die optionale Allradlenkung vergessen, dass hier ein 5-Meter-Auto bewegt wird. Das Ansprechverhalten der E-Maschinen sowie die pure Kraftentfaltung lassen uns einen konventionellen Verbrenner nicht vermissen. Auch, wenn ein konventioneller Verbrenner-Sound fehlen mag, passt der synthetische, aber angenehme E-Sound zu diesem E-GT. Das Schöne: Kurven zu durcheilen, macht genauso viel Spaß wie gefühlvolles Gleiten. Denn die Progressivlenkung passt sich stets der Fahrsituation an und arbeitet entweder leichtgängig
bis hin zu sportlich-straff. Das Fahrgefühl ist stets nachvollziehbar und authentisch, so dass in jeder Situation eine Symbiose aus Fahrzeug und Mensch entsteht. Das Drive Select erlaubt eine spürbare Spreizung der Fahreigenschaften.
Gute Reichweite – kurze Ladezeiten
Wer etwa „Efficiency“ wählt, wird vor allem im Stand merken, wie das Luftfahrwerk das Fahrzeug besonders aerodynamisch auf die niedrigste Stufe legt, zudem wird die Leistung gedrosselt und die Höchstgeschwindigkeit auf 140 km/h begrenzt. Nur so lässt sich dann auch eine Reichweite von deutlich über 400 Kilometern erzielen, während es in den übrigen Fahrmodi (Comfort, Dynamic, Individual) tendenziell weniger sind – zu groß ist die Versuchung, den unglaublich vehementen Vortrieb der beiden E-Maschinen immer und immer wieder spüren zu wollen.
Doch waren es im realistischen Fahrbetrieb annähernd so viele Kilometer: 399 bei einem Testverbrauch von 22,3 kWh auf 100 km. Nur wer das E-Pedal streichelt, wird den Wert auf unter 20 kWh drücken können.
Grundsätzlich geht der GT sehr effizient mit Strom um. Im Normalfall gleitet man widerstandsarm dahin, über die Schaltwippen lässt sich die Verzögerungswirkung der E-Maschinen zumindest ein wenig beeinflussen, so dass mehr oder weniger stark Energie in den Akku zurückgeführt werden kann. So auch beim Bremsen, dessen Aufgabe bis zu einem gewissen Verzögerungsgrad von der E-Maschine übernommen wird. Erst darüber hinaus haben die konventionellen Scheibenbremsen etwas zu tun. Dieser Übergang ist jedoch leider nicht so feinfühlig wie erhofft, auch wenn die neuen Wolfram-Carbid-Scheiben (3.450 Euro) ordentlich in die Zange genommen werden und die Bremse eine gute Dosierbarkeit bietet. Nachladen ist im E-Tron GT keine große Sache, aber eine ziemlich schnelle: Mit maximal 270 kW Ladeleistung (Gleichstrom) kann geladen werden – vorausgesetzt, man hat die passende Ladesäule gefunden und die Hochvoltbatterie vorkonditioniert.
Es empfiehlt sich, die anzusteuernde HPC-Ladesäule etwa 20 Minuten vor Ladestopp in der Navigation anzuwählen, da jene mit dem Thermomanagement vernetzt ist und den Akku auf Wohlfühltemperatur kühlt oder heizt – etwa 35 Grad Celsius. Nur so kann die maximale Ladegeschwindigkeit erreicht werden – in unserem Fall waren es höchstens 248 kW, was der Maximal-Ladeleistung schon sehr nahe kommt. Eine Ladung von fünf auf maximal 80 Prozent (SOC) geht dann bestenfalls in 25 Minuten über die Bühne. An einer 150-kW-Säule dauert der ganze Vorgang dementsprechend länger: eine knappe Stunde. Der GT kann zudem serienmäßig mit 11 kW, optional mit 22 kW Wechselstrom versorgt werden, dann ist die Batterie über Nacht wieder gefüllt.
Ladezeiten müssen E-Auto-Revoluzzer eben in Kauf nehmen – trotz 800-Volt-Technik. Für wen dies, nicht zuletzt wegen vorhandener Infrastruktur, aber kein Problem ist, der darf getrost zuschlagen. Denn dieser Gran Turismo ist nicht nur ein faszinierendes Konzept, sondern auch ein Elektroauto, dass den Spagat zwischen Komfort und Sportlichkeit meistert, wie kaum ein anderes. Gut gemacht!